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Es ist ein Bedürfnis des Menschen, fremde Bewusstseinsinhalte unverfälscht zu erfahren. Was ihm in der realen Welt verwehrt bleibt, bietet das fiktionale Erzählen. Indem der Erzähler einer fiktionalen Erzählung keinen Anspruch darauf erhebt, wirklich Geschehenes darzustellen, erscheint es unproblematisch, wenn er das Innenleben seiner Figuren offenlegt. Dies ist bei einer faktualen Erzählung nicht möglich, da sie wegen ihres Realitätsbezugs den Grenzen der menschlichen Wahrnehmung unterliegt. Die Darstellung fremden Bewusstseins wird daher oft als Alleinstellungsmerkmal des fiktionalen Erzählens angesehen. Aber wird im faktualen Erzählen tatsächlich vermieden, fremdes Bewusstsein darzustellen? Oder liefert es dem Rezipienten nicht doch das, was er wissen möchte und ist damit dem fiktionalen Erzählen ähnlicher als angenommen? Diesem Fragenkomplex widmete sich die vorliegende Studie. Mit Hilfe eines computergestützten diachronnarratologischen Ansatzes wurde ein Korpus von fünf Entwicklungsromanen und fünf Biographien aus dem achtzehnten bis zwanzigsten Jahrhundert im Hinblick auf Darstellungen fremden Bewusstseins analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass es sich lohnt, die bisherigen Annahmen in diesem Bereich zu überdenken.
Frederike F. E. Lagoni, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland.