Unsere Empfehlungen

Die Buchhändlerin empfiehlt im März 2024

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Pfaueninsel Thomas Hettche

gebunden

Die Buchhändlerin empfiehlt im November 2014

Thomas Hettche "Pfaueninsel"

Kiepenheuer und Witsch Verlag 19,99 €


Thomas Hettche, Jahrgang1964, lebt in Berlin. Er erhielt bereits mehrere hochkarätige Buchpreise für frühere Veröffentlichungen, mit seinem neuen Roman stand er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.


Mit dieser Geschichte über die Pfaueninsel gestaltete der Autor ein grandioses Genre überschreitendes Werk, das gleichzeitig einen anspruchsvollen historischer Roman, einen sensiblen Entwicklungsroman und einen Gesellschaftsroman in sich vereint.


Die Handlung setzt ein, als Königin Luise bei einem Besuch der Pfaueninsel Anfang des 19. Jahrhunderts auf den kleinwüchsigen Christian stößt und entsetzt das Wort "Monster" ausstößt. Christian erzählt das seiner ebenfalls zwergwüchsigen Schwester Marie - dieses Wort beeinflusst das Leben der Geschwister nachhaltig.


Als Leser erleben wir die Geschichte dieser Insel, die sich immer neu zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit entscheiden muss, aus dem Blickwinkel Maries von deren Kindheit an bis ins hohe Alter.


In einer Zeit, in der sich Könige noch Riesen, Zwerge und exotische Tiere "hielten" um ihren Hof attraktiver zu machen, in der aber auch schon das Ende dieser Epoche anklingt, wirkt Maries Leben bereits wie ein Anachronismus.

Das Verhältnis zwischen Marie und ihrem Bruder Christian ist ein sehr inniges, doch Marie liebt Gustaf, den Sohn ihres Ziehonkels noch mehr. Ein - durchaus auch erotisches Dreiecksverhältnis - beginnt, das in Schmerz, Leid und Tod aufgehen wird.


Ich habe sehr viel wirklich Interessantes über die Geschichte der Pfaueninsel - über Lenné, Schinkel und Fintelmann erfahren, aber das hätte ich in einem guten Sachbuch ja auch. Hettche jedoch schaffte es hier, Informationen in einen tief berührenden und stilistisch hervorragenden Roman zu integrieren.


"Pfaueninsel" gehört für mich zu den schönsten und besten Büchern dieses Jahres!

zum Produkt € 26,00*

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Das Tiefland Jhumpa Lahiri

kartoniert

Die Buchhändlerin empfiehlt im Oktober 2014

Jhumpa Lahiri " Das Tiefland"

521 Seiten

Rowohlt Verlag

22,95 €



Jhumpa Lahiri, indischer Abstammung, wurde in London geboren, wuchs aber in den USA, in Rhode Island auf. Sie erhielt schon etliche wichtige literarische Auszeichnungen, so den Pulitzer Preis, dem PEN/Hemingway Award und den Commonwealth Writers- Prize.


Der Roman erzählt eine generationenübergreifende Familiengeschichte, in deren Mittelpunkt die Brüder Subhash und Udayan stehen. Sie wachsen in Tollygunge, dem Tiefland, einer Flußniederung in einem Vorort Kalkuttas auf, die beiden sind sich sehr zugetan und als Kinder unzertrennlich.


Später trennen sich ihre Wege: Udayan, der ebenso wie Subhash sehr an Politik interessiert ist, beide sind "links", wendet sich immer mehr einer Gruppe maoistischer Extremisten zu, während sich Subhash immer mehr entfernt davon. Der pflichtbewusste Sohn und Bruder wird später zum Studium in die USA gehen und dort ein eigenes Leben aufbauen. Doch so ganz "eigen" kann es nicht werden, denn die Familie, die Vergangenheit und eine kurzfristige Rückkehr nach Indien bringen ihn zu einer sehr tiefgreifenden und folgenschweren Entscheidung, die sein ganzes weiteres Leben bestimmen wird.


Udayan verliebt sich und heiratet - gegen den Willen seiner Eltern - Gauri, eine Kommilitonin, die ihm auch politisch nahesteht. Seine Radikalisierung wird ihm zum Verhängnis werden. Nach seinem Tod hinterlässt er die schwangere Gauri, die bei ihren Schwiegereltern lebt, die nichts von ihr wissen wollen und ihr das Kind wegnehmen möchten. Subhash entschließt sich dazu, Gauri mit in die USA zu nehmen, einerseits um ihr zu helfen, andererseits als eine letzte Ehrerweisung an seinen Bruder.


Die Tochter Bela wird ihm mehr und mehr zum Lebensmittelpunkt, er, der gar nicht ihr echter Vater ist, lebt mehr und mehr durch seine Vaterrolle, während Gauri sich dem Familienleben immer mehr entfremdet. Die Lebensstränge Subhashs, Gauris und Belas werden kunstvolle miteinander verflochten, man folgt den Geschichten bereitwillig und gern. Glück? Ja, das gibt es auch, aber es ist spärlich gesät, immer bedroht und dadurch umso wertvoller, wenn es doch immer mal wieder auftaucht.


Ich kann gar nicht genau sagen, was mir am allerbesten gefallen hat. Ist es die das ganze Buch wie eine Grundmelodie durchziehende Melancholie, die Lebensgeschichte dieses anständigen intelligenten und wirklich "guten" Mannes Subhash, der nur selten nach seinem Glück sucht, der sein Leben so akzeptiert wie es ist?

Oder ist es noch viel mehr die spannende Geschichte der Naxalitenbewegung über die ich noch nie etwas gehört hatte?

Was weiß man hierzulande eigentlich von diesem riesengroßen weltpolitisch so bedeutsamen Land? Nicht wirklich viel, dass es dort eine eigene Art 68er Bewegung gegeben hatte, war mir beispielsweise völlig unbekannt. Auch die Art wie die offizielle Politik - trotz der ja noch nicht gar so lange erreichten Unabhängigkeit - die Menschen enttäuschte und sie mit ihren großen Problemen alleine ließ, las ich mit großer Spannung.


Oder freue ich mich nicht vor allem über Lahiris klaren, prägnanten und intensiven Stil? Ich kann es nicht genau benennen, aber vielleicht wirkt alles zusammen um diesen Roman für mich zu einem der Highlights des Bücherherbsts 2014 zu machen.

Ein zutiefst beeindruckender Roman, der dem Leser einen faszinierenden Einblick in das politische und gesellschaftliche Leben Indiens der 60er und 70er Jahre gewährt, gleichzeitig eine feinfühlige Migrationsgeschichte sowie erzählt und dabei seine Charaktere überzeugend und lebendig zeichnet.


Ich kann nur hoffen, dass sie mit diesem grandiosen Werk endlich auch bei uns den Erfolg bekommt, den sie verdient.

zum Produkt € 16,00*

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Etüden im Schnee Yoko Tawada

kartoniert

Die Buchhändlerin empfiehlt im August 2014

Yoko Tawada

Etüden im Schnee

Konkursbuch Verlag 12,90 €



Im heißen Sommermonat August möchte ich als mein Buch des Monats einen Roman über Eisbären vorstellen.

Yoko Tawada wurde als Tochter eines Buchhändlers 1960 in Tokio geboren. Sie lebt seit 1982 in Deutschland und seit 2006 in Berlin - Friedenau. Die Literaturwissenschaftlerin, die mit vielen internationalen, japanischen und deutschen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, hat zu unserer Freude schon zweimal bei uns in der Buchhandlung gelesen.


Ihre neueste Veröffentlichung kann man als eine Familiengeschichte, als ein Migrationsepos, aber auch als Tier-Mensch-Geschichte, als Ost-West-Roman und gut und gerne auch als hochkomische Literatur lesen. Frau Tawada hat das Buch auf Japanisch geschrieben und anschließend selbst ins Deutsche übersetzt.


Das Leben einer Eisbärengroßmutter, deren Tochter und des Enkelsohns werden auf originelle Weise literarisch begleitet: ihre Zeit im Zirkus, als Artisten und im Zoo wird kritisch, witzig und sehr phantasievoll entlang einer Migrationsgeschichte von der alten Sowjetunion über die DDR bis in den West-Berliner Zoo erzählt.


Es erstaunt nur wenig, dass sich der Enkelsohn als "unser Knut", der Lieblingseisbär nicht nur der Berliner, entpuppt. Wir können hier also quasi einen Entwicklungsroman über Eisbär Knut und seine Vorfahren lesen.


Ein fulminanter Ritt durch die Zeiten vor einem politisch und zeitgeschichtlich interessanten Hintergrund, der Tierrechtsaspekte streift und letztendlich sogar Michael Jackson von den Toten auferstehen lässt um sich mit Knut über die Last, die Medienlieblinge zu ertragen haben, zu unterhalten.


Das hört sich alles absurd an? Mag sein, doch kann ich versichern, dass ich absolut fasziniert von dieser Geschichte war, mich köstlich amüsiert habe und - wie immer bei der Lektüre von Yoko Tawada - voller Bewunderung für ihren kreativen Umgang mit Sprache bin.


Ich kann diesen Roman mit bestem Gewissen jeder/jedem empfehlen, der Spaß an subtilem Witz hat und offen ist für Genre überschreitende Literatur. Genauso kann ich es aber auch jedem, der gute Unterhaltung und eine witzige Sommerlektüre sucht, ans Herz legen.


Lassen Sie sich einfach überraschen!


Elvira Hanemann

zum Produkt € 12,90*

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Die Berlinreise Hanns-Josef Ortheil

kartoniert

Die Buchhändlerin empfiehlt im Juli 2014

Hanns-Josef Ortheil "Die Berlinreise"

Luchterhand Verlag 16,99 €


Hanns-Josef Ortheil geboren 1951 in Köln, ist Germanist, Drehbuchautor und Schriftsteller. Sein größter literarischer Erfolg ist der autobiografische Roman "Die Erfindung des Lebens".


Bei dem neu erschienene Band "Die Berlinreise" handelt es sich um ein Reisetagebuch, das Ortheil als 12-jähriger geschrieben hatte. 1964 fuhr er mit seinem Vater ins Nachkriegsberlin. Der Vater, der früher mit seiner Frau in Berlin lebte, hatte sich aber bislang wegen schlimmer Erinnerungen an die Kriegszeit gescheut Berlin zu besuchen.


Ortheil hat diese Reisenotizen im Nachhinein nicht bearbeitet, sondern hat sie so, wie er es damals als Kind geschrieben hatte, stehen lassen.


Anfangs empfand ich das als sonderbar, denn der Ton ist sehr einfach und schlicht gehalten. Je weiter ich jedoch las, desto klüger finde ich die Entscheidung des Schriftstellers, nichts zu ändern.


Die Unverfälschtheit der Eintragungen erzeugt einen authentisch wirkenden Einblick in diese Zeit, als Berlin noch unheimlich stolz auf Errungenschaften wie den Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder das Hansa-Viertel war und sich selbst gerne feierte, sei es mit Berliner Maibowle oder guter Erbsensuppe bei Aschinger.


Der "Bub", wie er sich selbst in den vielen Postkarten an seine in Köln gebliebene Mutter nennt, hat einen ganz genauen Blick auf Menschen, Orte und Ereignisse. Das wirkt nur im ersten Moment naiv, verblüfft dann aber umso mehr durch seine treffsicheren und tiefen Einsichten.


Hoch interessant finde ich auch wie unterschiedlich der Junge Ost- und West-Berlin wahrgenommen hatte!


Man erlebt als Leser eine wunderbare Vater - Sohn Beziehung mit, erfreut sich an den Beschreibungen des alten Berlins (Friedenau, das als verträumtes Idyll erscheint, kommt auch nicht zu kurz) und fühlt sich auf der ganzen Strecke bestens unterhalten.


Ein kleines, gleichzeitig großes Buch!


Elvira Hanemann

zum Produkt € 11,00*

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Americanah Chimamanda Ngozi Adichie

kartoniert

Die Buchhändlerin empfiehlt im Juni 2014

Chimamanda Ngozi Adichie "Americanah"

Übersetzerin: Annette Grube Fischer Verlag 24,99 Euro

Chimamanda Ngozi Adichie wurde 1977 in Nigeria geboren, begann dort zu studieren und schloss in den USA ihr Studium der Politik- und Kommunikationswissenschaften ab. Heute lebt sie in Nigeria und den USA.


Zum Inhalt:

Ifemelu lebt in den USA, ist eine bekannte Bloggerin und ist liiert mit einem gut situierten linksintellektuellen schwarzen Amerikaner. Sie hat sich in den Staaten gut eingelebt. Doch sie beschließt, alle Brücken hinter sich abzubrechen und zurück nach Afrika zu gehen. Das ist die Ausgangssituation, im weiteren Verlauf des Romans wird uns Ifemelus Leben bis zu diesem Punkt erzählt. Wenn der chronologische Ablauf in der Jetztzeit angekommen ist, werden wir auch noch mit ihr nach Afrika zurückgehen und sehen, ob sich ihre Erwartungen und Hoffnungen dort erfüllen werden.

Ifemelu kommt aus einer einfachen Familie, ihre Eltern sind borniert und konservativ. Als Ifemelu sich in Obinze verliebt, lernt sie in dessen Elternhaus ein anderes, offeneres und intellektuelleres Leben kennen und schätzen. Obinze und Ifemelu lieben sich sehr, sie sind glücklich miteinander. Doch dann bietet sich für Ifemelu die Chance, in die USA zu gehen um dort zu studieren. Diese Chance kann sie sich nicht entgehen lassen, auch Obinze unterstützt sie darin.

Die erste Zeit in den Staaten entwickelt sich allerdings als so viel schwieriger als erwartet: kein Geld, nur eine Art Halblegalität und Wohnen in beengten Löchern. Die Verzweiflung wird immer größer und dann lässt sich Ifemelu zu etwas hinreißen, was ihr zwar ein wenig Geld einbringt, sie aber innerlich so beschädigt, dass sie in tiefe Depression verfällt. Sie bricht den Kontakt mit Obinze ab, der keine Ahnung hat, was los ist, doch sie schafft es nicht, mit ihm zu sprechen.


Man könnte meinen, es handle sich in erster Linie um eine Art Liebesroman, nach dem Motto: "femelu und ihre Männer". Doch nichts könnte falscher sein als dieser Eindruck.

Ifemelu hatte irgendwann begonnen zu bloggen, in dem sie Erfahrungen einer nichtamerikanischen Schwarzen in den USA beschreibt. Große Teile des Buches bestehen aus diesem Blog, der hochinteressante Alltagserlebnisse hinterfragt. Das Verhältnis von afrikanischen und amerikanischen Schwarzen zueinander, Rassismuserfahrungen in den unterschiedlichsten Abstufungen, die Erlebniswelt von schwarzen Frauen, das Leben unter linksliberalen gemischtrassigen Amerikanern, die in der Wahl Obamas d i e große Hoffnung auf Veränderung sehen und vieles andere mehr.

Ifemelus Blog wird so erfolgreich, dass sie an Unis Vorlesungen darüber hält und intellektuell immer selbstbewusster wird. Als sie beschließt nach Nigeria zurück zukehren, werden auch hier ihre Erfahrungen mit den unterschiedlichen Lebenswelten, detailliert und präzise erzählt. Hat sich Nigeria so verändert oder ist es Ifemelu selbst?

Den Genremix zwischen Liebesgeschichte, der Geschichte von Fremdheit in einem anderen Land, einer soziologischen Studie und den Blogeinträgen fand ich stilistisch sehr gelungen. Achidie verarbeitet nahezu alles, was ihren Erfahrungshorizont streift, intellektuell.

Ein kluges und hochinteressantes Buch!

zum Produkt € 16,00*

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Vielleicht Esther Katja Petrowskaja

kartoniert

Die Buchhändlerin empfiehlt im Mai 2014

Katja Petrowskaja

"Vielleicht Esther"

Suhrkamp Verlag

19.95 Euro


Die Autorin wurde 1970 in Kiew geboren, studierte Literaturwissenschaft (in Estland und in Moskau) und lebt seit 1999 in Berlin.

Für einen Auszug aus diesem Roman erhielt sie 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Mit "Vielleicht Esther" stand sie auf der Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse 2014. Für mich war sie die eindeutige Favoritin.


Katja Petrowskaja schreibt die Geschichte ihrer jüdischen Familie auf. Sie recherchiert, forscht im Internet, befragt verstreut lebende Verwandte, sie besucht Orte, sie erinnert sich.


Daraus entsteht kein geradlinig erzählter Familienroman, kein weitverzweigtes Epos und auch kein sachlicher Tatsachenroman, sondern eine ungewöhnlich facettenreiche Fülle von Geschichten, historischen Tatsachen, Reflexionen und Gefühlen.


In ihrer Familie fanden sich Attentäter und Revolutionäre, vor allem aber immer wieder Lehrer für Taubstumme.

Die Urgroßmutter, deren Name "Esther" noch nicht einmal ganz sicher ist, wurde 1941 in Babi Jar von deutschen Soldaten erschossen - noch bevor sie dem Aufruf der Nazis folgen konnte, zum Sammelort zu gehen. Wäre sie dahin gegangen, wäre sie gemeinsam mit anderen 30.000 Juden getötet worden.

Auf eine literarisch ganz und gar großartige Weise - im leichten Wechsel zwischen Tiefgründigkeit, Ironie und im Gedächtnis haften bleibenden Bildern - nimmt sie uns Leser mit auf ihre Spurensuche. Der Leser wird emotional tief berührt - gerade durch die unsentimentale Erzählweise.

Ihre liebevolle und meisterhafte Aneignung der deutschen Sprache, der "stummen" Sprache (deutsch und stumm ist das gleiche Wort in den slawischen Sprachen), hat mich mit tiefem Respekt erfüllt.

Wir dürfen alle gespannt darauf sein, was von dieser Schriftstellerin noch folgen wird -denn Katja Petrowskaja schreibt große Literatur!

Elvira Hanemann

zum Produkt € 12,00*

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Am Ufer Rafael Chirbes

kartoniert

Die Buchhändlerin empfiehlt im April 2014

Rafael Chirbes "Am Ufer"


Kunstmann Verlag


Übersetzerin: Dagmar Plötz


24,95 Euro


Rafael Chirbes wurde 1949 in der Nähe von Valencia geboren. Heute lebt er in Beniarbeig/Alicante.



In seinen Romanen wie "Der Fall von Madrid", "Der lange Marsch" oder "Der Schuss des Jägers" beschreibt er die spanische Gesellschaft während der Franco Zeit.


In seinem letzten Roman "Das Krematorium" bewegte er sich in Richtung Jetztzeit, er handelt von den gesellschaftlichen Veränderungen, die durch den Tourismusboom an den spanischen Küsten entstanden ist.


In all seinen Büchern zeigt Chirbes sich als ein politisch bewusster und sozialkritischer Autor. Er gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen spanischen Autoren, für "Krematorium" erhielt er den Premio Nacional de la Critica.


Zum Inhalt:


Esteban ist siebzig Jahre alt und Tischler, sein Handwerksbetrieb steht vor der Pleite und er muss seine zum Teil langjährigen Angestellten entlassen.


Während er abends in der Kneipe sitzt und Karten spielt, erinnert er sein Leben. An seine erste "und einzige Liebe" die er an seinen besten Freund verlor, an seine kurze wilde Zeit als Jugendlicher und an die langen Jahre, die er mit seinem Vater gemeinsam verbrachte. Erstaunt stellt er fest, dass er den größten Teil seines Lebens mit diesem Mann, mit dem er sich nicht einmal besonders versteht gelebt hat: im gleichen Haus und in der gleichen Tischlerei.


Esteban zieht Bilanz: aus seinen Träumen ist nichts geworden und selbst in seinem Beruf sieht er sich selbst nur als mittelmäßig an. Die Firma ist insolvent, die Freunde sind ihm sehr fern und "Liebe" gibt es nur noch in Form von seltenen Besuchen bei Prostituierten. Die Pflegerin seines Vaters, der er sich väterlich verbunden fühlt, zieht sich nach seinem finanziellen Ruin ebenfalls zurück.


Auch wenn Estebans Niedergang als ein sehr persönlicher erzählt wird, kann und muss man diesen Roman doch auch als einen Abgesang auf Spanien lesen. Die Wirtschaftskrise, die ganze Landstriche veröden lässt und die eine Unmenge Menschen in die Armut stürzt, ist quasi ein Hauptprotagonist des Buches.


Chirbes gelingt die großartige Kombination einer sehr berührenden privaten Lebensgeschichte und einer viel weiter greifenden subtilen Kapitalismuskritik.


Mit seiner aussagekräftigen, durchaus nicht zimperlichen, aber sich immer auf hohem Niveau bewegender Sprache zeigt der Autor sein großes literarisches Talent.


Ein zwar bereits berühmter Autor, dem ich aber ein viel größeres Lesepublikum in Deutschland wünsche!



Elvira Hanemann

zum Produkt € 10,99*

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Secondhand-Zeit Swetlana Alexijewitsch

kartoniert

Die Buchhändlerin empfiehlt im März 2014

Swetlana Alexijewitsch "Secondhand - Zeit" Untertitel: Leben auf den Trümmern des Sozialismus

Übersetzer: Ganna-Maria Braungardt Hanser Verlag 27,90 €


Swetlana Alexijewitsch wurde 1948 in der Ukraine geboren. Nach einem Journalistikstudium in Minsk war sie für verschiedene Zeitungen tätig. Wegen ihrer oppositionellen Haltung hatte sie immer wieder große Probleme mit der Zensur, sie stand unter Anklage wegen Beschmutzung der Ehre des Vaterlands und ihr wurden öffentliche Auftritte untersagt. Dennoch ging sie im Jahr 2011nach längeren Aufenthalten in Europa und den USA wieder nach Minsk zurück. Für die 2013 erschienene "Secondhand- Zeit" erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.


Der Titel des Buchs erklärt sich aus Alexijewitschs Vorstellung, dass die postsowjetische Zeit eine Zeit der "gebrauchten" Ideen ist, dass nicht viel Neues oder Kreatives entstanden ist.


Alexijewitsch widmet dieses Buch den vielen Bürgern der ehemaligen Sowjetunion. In unzähligen Interviews und Gesprächen stellt sie die unterschiedlichsten Menschen, den sprichwörtlichen "kleinen Mann", alte Kommunisten, aber auch die Neureichen, die Wendegewinnler, Parteisekretäre und tadschikische Gastarbeiter vor. Man hat den Eindruck, dass aus praktisch jeder Gesellschaftschicht alle zu Wort kommen. Dieser groß angelegte Chor an Stimmen erhellt nicht nur unser Russlandbild und bildet den Leser politisch weiter, sondern es ergreift auch tief menschlich.


Die große Enttäuschung von Alten, die sich der Idee des Kommunismus verbunden fühlten über die Gorbatschow und Post-Gorbatschow Zeit wird ebenso erfahrbar wie auch der unheimliche Zwang und die Unterdrückung in der alten Sowjetunion. Junge Menschen, die heute leben, haben wiederum andere Probleme wie Armut, große Chancenungleichheit und wenig politische Freiheit.


Zitat aus ihrer Rede zur Preisverleihung

"Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch im Grunde schreibe ich nun seit fast vierzig Jahren an einem einzigen Buch. An einer russisch-sowjetischen Chronik: Revolution, Gulag, Krieg " Tschernobyl" der Untergang des »roten Imperiums« ... Ich folgte der Sowjetzeit. Hinter uns liegen ein Meer von Blut und ein gewaltiges Brudergrab. In meinen Büchern erzählt der »kleine Mensch« von sich. Das Sandkorn der Geschichte. Er wird nie gefragt, er verschwindet spurlos, er nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab. Ich gehe zu denen, die keine Stimme haben. Ich höre ihnen zu, höre sie an, belausche sie. Die Straße ist für mich ein Chor, eine Sinfonie. Es ist unendlich schade, wie vieles ins Nichts gesagt, geflüstert, geschrien wird. Nur einen kurzen Augenblick lang existiert. Im Menschen und im menschlichen Leben gibt es vieles, worüber die Kunst nicht nur noch nie gesprochen hat, sondern wovon sie auch nichts ahnt. Das alles blitzt nur kurz auf und verschwindet, und heute verschwindet es besonders schnell. Unser Leben ist sehr schnell geworden. Flaubert sagte von sich, er sei »ein Mensch der Feder«, ich kann von mir sagen: Ich bin ein Mensch des Ohres."


Man mag an diesem kurzen Redeausschnitt schon bemerkt haben, mit welch gewaltiger Sprache Swetlana Alexijewitsch schreibt. Auch ihre Interviews sind nicht schablonenhaft vorgeformt, sondern sie lässt ihren Gesprächspartnern Raum und Zeit, sich so auszudrücken, wie es ihnen gemäß ist.


Nach der Lektüre jedenfalls ist ein großes Verständnis entstanden, aber leider auch ein Gefühl des Pessimismus.


Ein tief beeindruckendes und bewegendes Buch!



Elvira Hanemann

zum Produkt € 11,99*

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Aus dem Berliner Journal Max Frisch

kartoniert

Die Buchhändlerin empfiehlt im Februar 2014

Max Frisch "Aus dem Berliner Journal"

Suhrkamp Verlag

20 €

Max Frisch hatte selbst verfügt, dass seine Berliner Tagebuchnotizen erst 20 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden dürfen. Nun hat es noch 2 Jahre länger gedauert bis diese Texte dem Leser zugänglich gemacht wurden. Zwar sind nicht alle Notizen veröffentlicht worden, doch das was in dem 235 Seiten umfassenden Band steht, ist allemal lesenswert.

Da es sich um die Zeit (1973 - 1980) handelt, in der Frisch in der Sarrazinstraße wohnte, wird das Buch für Friedenauer gleich noch interessanter.

In der Akademie der Künste haben mein Mann und ich als Ausstellungsbesucher bereits 2012 einige wenige Texte daraus - hinter Glas! - lesen dürfen, unser Interesse war damals schon geweckt worden.

Neben kurzen Zitaten wie "Gestern mit Uwe und Elisabeth Johnson in einem italienischen Restaurant hier in Friedenau. Es stimmt nicht, dass im Alter keine neue Freundschaft mehr entstehe." oder "Berlin ohne eine einzige Zeitung von Rang" stehen längere Abschnitte in denen er über Literatur, über Politik und Gesellschaft, seine Gesundheit und über Menschen mit denen er näher zu tun hatte reflektiert.

Weniger als die Hälfte seiner Notizen werden in dem Buch veröffentlicht, der Rest ist ¿laut Verlag - entweder nicht bedeutsam oder verletzt Persönlichkeitsrechte. Man mag es bedauern, dass nicht alles gelesen werden kann, doch kann man in dieser schlanken Form jedenfalls sicher sein, dass kein Wort zu viel gedruckt ist. Und: Persönlichkeitsrechte sind ein hohes Gut, sie zu respektieren ebenfalls.


Die Buchhändlerin empfiehli im Februar 2014

Wie immer bei Max Frisch erfreut man sich an seiner geistreichen und gut formulierten Prosa die nie langweilig wird, auch wenn es mal nur darum geht, dass er bei Familie Grass Nieren gegessen hat.

Der Band ist eine lange erwartete und ausgezeichnete Ergänzung zu Frischs Tagebüchern, ich spreche gerne eine klare Leseempfehlung dafür aus!

Elvira Hanemann

zum Produkt € 10,00*

Seite
1 ... 11 12 13 ... 14