Unsere Empfehlungen

Die Buchhändlerin empfiehlt im März 2024

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

4321 Paul Auster

gebunden

Die Buchhändlerin empfiehlt im März 2017

Paul Auster: „4 3 2 1“

Übersetzt: Gunkel, Schmitz, Singelmann, Stingl,
Rowohlt Verlag
29,95 €

Paul Auster, 1947 in Newark, New Jersey, geboren, gehört zu den international erfolgreichsten zeitgenössischen amerikanischen Autoren. Er ist mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheiratet, lebt in Brooklyn und hat zwei Kinder.

In diesem über 1200 Seiten starken Roman erzählt Auster die Geschichte von Archie Ferguson, einem amerikanischen Jungen aus Newark. Archie ist der Nachfahre eingewanderter Juden, schon die verrückte Geschichte seines Großvaters und dessen Ankunft in den USA nahm mich spontan für dieses Buch ein. Sofort war ich mittendrin in dieser wunderbaren Familiengeschichte, war traurig mit Archies Mutter, fieberte mit ihrem Mann mit und liebte dieses Kind. Doch dann, plötzlich, im nächsten Kapitel ist alles anders, was vorher Tatsache war, ist jetzt nicht mehr real.

Kein Wunder, denn Auster, dieser begnadete Geschichtenerzähler, erzählt uns vier verschiedene Versionen von Archies Leben, alternative Lebensvariationen. Einmal ist der Vater früh verstorben, ein andermal entwickelt sich dieser zu einem herzlosen Kapitalisten, dann wieder stirbt Archie selbst als Kind, in einer anderen Version ist er homosexuell. Einmal liebt er seine Cousine Amy wie verrückt, in anderen Kapiteln ist sie „nur“ seine beste Freundin.

Die Hauptcharaktere begleiten Archie in jedem dieser Leben, doch wie er und die Interaktionen dieser Menschen sich entwickeln, das ist jedes Mal ganz anders.
Der Roman spielt in den 50ern und 60ern, Zeitgeschichte spielt eine große Rolle: Bürgerrechtsbewegung, Vietnamkrieg, Rassenunruhen – ja, es ist ein sehr politischer Roman. Aber er ebenso ein erotischer, ein Liebes-, ein Familien-und Freundschaftsroman, ein Roman über Literatur, über das Schreiben, über den Sinn des Lebens und – das vor allem - ein hervorragender Entwicklungsroman.

So kompliziert sich die Struktur auch anhören mag, Auster versteht es wunderbar, den Leser mit wenigen Worten sofort in die „richtige“ Version zu versetzen.

Kritiker nennen 4 3 2 1 Austers „Opus Magnum“, ich kann bestätigen, dass sich das bestimmt nicht nur auf das Volumen bezieht. Es ist ein grandioser Roman - ein Muss nicht nur für eingefleischte Auster – Fans!

Elvira Hanemann

zum Produkt € 29,95*

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Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Mischpoke! Marcia Zuckermann

gebunden

Die Buchhändlerin empfiehlt im Februar 2017

Marcia Zuckermann
Mischpoke!
Frankfurter Verlagsanstalt
24 €

Marcia Zuckermann wurde 1947 in Ost-Berlin geboren. Ihr jüdischer Vater überlebte den Holocaust als politischer Gefangener im KZ Buchenwald, ihre protestantische Mutter war als Kommunistin im Widerstand aktiv. 1958 musste die Familie die DDR als Dissidenten verlassen. In West-Berlin absolvierte Marcia Zuckermann eine Ausbildung als Werbewirtin im Verlagswesen und war Mitbegründerin und Geschäftsführerin einer Zeitschrift. Sie lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin.

Mischpoke bedeutet im Jiddischen „Familie“ - und um einen Familienroman, der die Kohanims über 100 Jahre hinweg begleitet, handelt es sich hier auch.

Samuel Kohanim, Sägewerksbesitzer in Westpreußen hat sieben Töchter, die unterschiedlicher nicht sein könnten, es eint sie nur der Wunsch nicht so zu werden wie ihre verhärtete und verbitterte Mutter Mindel.

Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs treiben große Teile der Familie nach Berlin. Zwischen dem roten Wedding und bürgerlichen Modeateliers, Kommunisten und Zionisten lesen wir von Liebesgeschichten, davon mehr unglückliche als glückliche, Mischehen, geliebten und ungeliebten Kindern, Schwestern die sich spinnefeind sind, sich dann aber doch in der Not helfen, Antisemiten und Nazis. Leider lesen wir auch von vielen Toten und von viel Leid, aber wie sollte das bei einer jüdischen Familiengeschichte, die im 20. Jahrhundert spielt, auch anders sein.
Bewundernswert mit wie viel Verve, mit welch tollen Charakterbeschreibungen und auch mit Humor die Autorin die Geschichte ihrer eigenen Familie lebendig macht!

Marcia Zuckermann versteht es hervorragend, mit diesem rasanten, gewitzten und bewegenden Roman einen ganz eigenen und persönlichen Akzent zu setzen. Sie erzählt authentisch über deutsche, polnische und jüdische Zeitgeschichte und findet durch die – leider etwas zu kurz gekommene – Rahmenhandlung auch noch den Bogen zur aktuellen Flüchtlingsdebatte.
Ein lesenswerter Roman!

Elvira Hanemann

zum Produkt € 24,00*

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Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Rückkehr nach Reims Didier Eribon

kartoniert

Die Buchhändlerin empfiehlt im Januar 2017

Didier Eribon
Rückkehr nach Reims
übersetzt von Tobias Haberkorn
Suhrkamp
18.- Euro



Didier Eribon, geboren 1953 in Reims, lehrt Soziologie an der Universität von Amiens. Er gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs. Eribon wuchs in ärmlichsten Verhältnissen auf. Seine Großmutter war Analphabetin, seine Mutter Putzfrau und Fabrikarbeiterin, sein Vater Hilfsarbeiter. Es galt damals als kompletter Unsinn, wenn ein Kind länger, als es sein musste, zur Schule ging, alle Geschwister gingen mit 14 von der Schule ab und begannen zu arbeiten. Man wählte die Kommunisten, hasste „die da oben“, und man arbeitete sich krank und kaputt.
Als es Eribon dann – mit Hilfe seiner Mutter, die dafür noch mehr arbeitete – gelang, auf die höhere Schule zu gehen und später zu studieren, stürzte ihn das in große innere Konflikte. Alles, Kleidung, Sprache und Ansichten, waren nun anders, als er es kannte. Den Spagat, sich zwischen diesen Welten zu bewegen, schaffte er nicht und floh so früh wie möglich aus Reims und damit aus seinem Herkunftsmilieu. In Paris konnte er nicht nur Philosophie studieren (eine absolut unverständliche Wahl für seine Familie), sondern er konnte auch seine Homosexualität frei ausleben.

Als sein Vater starb, kehrte Eribon, nunmehr Professor für Soziologie, erstmals nach Reims zurück. Gemeinsam mit seiner Mutter betrachtet er alte Fotos und führt die Gespräche, die er längst hätte führen sollen. Für die mit seinem Vater ist es zu spät.

Eribon ist vor allen Dingen darüber erstaunt, dass er sich zwar relativ früh theoretisch, publizistisch und sehr offen mit seiner Homosexualität auseinandersetzen konnte, aber eigentlich nie mit seiner Herkunft aus einem einfachen Arbeitermilieu. Diese soziale Schande wurde von ihm – bis jetzt mit diesem Buch – immer verdrängt.

Neben den soziologischen, philosophischen und menschlichen Aspekten dieser autobiografischen Rückschau ist es vor allem auch die politische, die hier interessiert. Er zeigt klar auf, wie aus wie selbstverständlich immer die Kommunisten wählenden Arbeitern nun den Front National wählende wurden. Wie nicht wahrgenommen, wie abgehängt sich große Teile der Bevölkerung fühlen und warum sie dann auf Feindbilder wie „die Fremden“ hereinfallen, wo es früher eben „die da oben“ waren. Gerade im Hinblick auf die aktuelle Situation in Frankreich – aber auch in Deutschland – liest sich das sehr erhellend.

Eribon schreibt reflektiert und insgesamt gut verständlich, doch manchmal wünschte ich mir bei der Lektüre, Bourdieu oder Foucault gelesen zu haben, sicher wäre da einiges noch klarer geworden.
Eine bereichernde Lektüre!

Elvira Hanemann

zum Produkt € 18,00*

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Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Gegen den Hass Carolin Emcke

gebunden

Die Buchhändlerin empfielt im November 2016

Carolin Emcke
Gegen den Hass
Fischer Verlag
20 Euro



Die Preisträgerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2016 (letztes Jahr erhielt Navid Kermani diesen Preis) hat ein neues Buch veröffentlicht. Carolin Emcke, 1967 geboren, promovierte Philosophin, erlangte besonders durch ihre Texte aus Kriegs- und Krisenregionen, die sie zwischen 1998 bis 2013 bereiste Bekanntheit. Ihre Bücher „Von den Kriegen” und „Weil es sagbar ist” handeln von dieser Zeit. Mit „Wie wir begehren” erzählt sie von ihrem eigenen homosexuellen Coming-Out sowie von der politischen und sozialen Bedeutung des sexuellen Handelns.

In „Gegen den Hass” legt sie ein kluges, differenziertes aber auch leidenschaftliches Plädoyer für eine offene Gesellschaft vor. Beginnend mit der Hetzjagd auf Flüchtlinge im sächsischen Clausnitz berührt sie Themen wie die neue Rechte in Gestalt von Pegida und Co., über die Wahrnehmung von dunkelhäutigen Menschen in den USA, erklärt die dortige Black-lifes-matter-Bewegung über die Intoleranz gegen Transgender-Personen bis hin zu der menschenverachtenden Propaganda der IS.

Man könnte meinen, das sei ein sehr weiter Bogen, den sie da spannt und das alles sei auf 240 Seiten nicht abzuhandeln. Doch Carolin Emcke hakt diese Themen auch nicht einfach ab, sondern setzt sie in einen Zusammenhang. Ihre These lautet: Ein Staat, ein Gemeinweisen, ist immer dann am stärksten, wenn er/es offen ist. Je diverser desto sicherer und besser lebt es sich für den Einzelnen, aber auch für das kollektive Wir. Echte Demokratie ist nur dann zu haben, wenn alle in dieser Demokratie Lebenden daran partizipieren, wenn Minderheiten mit Respekt begegnet wird und wenn die Art und Weise wie wir leben, mit allen immer wieder neu ausgehandelt wird. Ein ausführlicher und präziser Anhang lädt ein dazu, sich weiter zu informieren.

Besonders gut gefiel mir ihr „Lob des Unreinen”, ein Essay in dem sie sich mit der hirnrissigen These dass ein möglichst reines unvermischtes Volk (oder auch eine sehr eng ausgelegte Version einer Religion) etwas erstrebenswertes sei. Sie hingegen spricht sich für die kulturelle, religiöse, sexuelle Verschiedenheit in einem säkularen Rechtsstaat aus.

Ein intelligenter, sehr gut lesbarer Appell an jeden Einzelnen, sich drängenden gesellschaftlichen Fragen zu stellen – und sich nicht mit einfachen Antworten auf komplexe Fragen zu begnügen.

Elvira Hanemann

zum Produkt € 20,00*

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Raumpatrouille Matthias Brandt

gebunden

Die Buchhhändlerin empfiehlt im Oktober 2016:

Matthias Brandt
"Raumpatrouille"
Kiepenheuer & Witsch Verlag
18 Euro



Matthias Brandt ist als sehr guter Schauspieler bekannt - und als Sohn von Willy Brandt. Mit dem Geschichtenband „Raumpatrouille“ debütiert er nun als Schriftsteller.
So locker, mit viel trockenem Humor und menschlicher Wärme wie er diese Geschichten aus der eigenen Kindheit geschrieben hat, bin ich mir sicher, dass es unmöglich dabei bleiben wird. Ich jedenfalls hätte große Lust, noch mehr davon zu lesen.

Besonders beeindruckt mich, wie er sehr Privates erzählt, ohne voyeuristische Bedürfnisse zu befriedigen. Zwar gibt es in den vierzehn Kapiteln zwei, in denen bekannte Politiker (Wehner und Lübke) vorkommen, aber das war es dann auch schon. Der Rest erzählt von der Kindheit und dem Aufwachsen in einer rheinischen Kleinstadt in einer Zeit, als man eben Raumpatrouille im Fernsehen sah und Astronaut im Garten und mit „Welthölzern” spielte – was durchaus auch gefährlich sein konnte.

Sicher rührt es an, wenn man die Reise des kleinen Jungen mit seiner Mutter nach Norwegen miterlebt oder ihm der Vater, dem er ein wenig Zeit abtrotzt, ein Buch vorliest. Doch das würde es auch, wenn es sich dabei nicht um Rut und Willy Brandt handelte.

Matthias Brandt fängt witzige und melancholische Momente ein, er erzählt von einem phantasiebegabten Kind, das unter ein wenig anderen Bedingungen als die anderen aufwächst (Personenschutz!), aber er zeigt gleichzeitig eine fast allgemeingültig zu nennende Entwicklung eines Menschen auf, der 1961 in der BRD zur Welt kam.

Interessanterweise kam gleichzeitig auch eine Musik CD von Jens Thomas heraus „Memory Boy”, die von diesem Buch inspiriert wurde. Beides passt sehr gut zusammen. Ein wirklich sehr schöner kleiner Band, dem man ruhig auch mal Menschen, die sonst keine Kurzgeschichten mögen, in die Hand drücken darf!

Elvira Hanemann

zum Produkt € 18,00*

empfohlen von:

Elvira Hanemann

Elvira Hanemann

Die Unvollkommenheit der Liebe Elizabeth Strout

gebunden

Die Buchhhändlerin empfiehlt im September 2016

Elizabeth Strout
Die Unvollkommenheit der Liebe
Übersetzt von Sabine Roth
Luchterhand Verlag 18.- Euro

Der gerade erschienene Roman der Pulitzer-Preisträgerin hat mich von der ersten bis zur letzten Seite fasziniert und begeistert.

Lucy Barton, eine New Yorker Schriftstellerin, verheiratet und Mutter zweier Kinder, erkrankt nach einer Operation an einer gefährlichen Infektion. Beschrieben werden die Wochen, in denen sie im Krankenhaus liegt und selten Besuch bekommt. Bis ihre Mutter, mit der sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hatte, auftaucht und mehrere Tage an ihrem Bett sitzt.


Nur von diesen Tagen handelt der Roman, Tage in denen nicht mehr geschieht, als dass sich die beiden über alte Geschichten aus der Kleinstadt unterhalten. So wenig äußere Handlung sich auch abspielt, umso tiefer werden die seelischen Innenräume ausgeleuchtet. Lucy erinnert sich an ihre Kindheit, die von tiefer Armut – und schlimmer – von Kälte, Lieblosigkeit und Angst geprägt war. Sie reflektiert ihre immensen Anstrengungen, sich von diesem traurigen Vermächtnis zu befreien – und ihrer eigenen Familie und ihren Kindern Liebe und Vertrauen in sich selbst zu geben.


Auch wenn ihre Mutter kein Wort über Wesentliches verliert, über den Vater und den gestörten Bruder, sich nicht nach Lucys Leben erkundigt, all das wiegt nicht das große Glück auf, das Lucy empfindet: Ihre Mutter ist bei ihr und sie spricht mit ihr!

Der deutsche Titel mag in die Irre führen, handelt es sich doch um einen tief bewegenden Roman über einen Mutter-Tochter-Konflikt, über die Untiefen einer schwierigen Familie und um den Kampf, davon frei zu kommen. Angst vor dem Tod, Gedanken über die Ehe, ihre Freunde und ihre Töchter ergänzen die im Vordergrund stehenden Kindheitserinnerungen.

Ich habe selten auf so wenigen Seiten eine so intensive Familiengeschichte gelesen, Strout darf sich getrost mit Alice Munro messen – und das ist ein sehr großes Kompliment!

zum Produkt € 18,00*

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