Die Buchhändlerin empfiehlt im November 2023
Anne Rabe, Die Möglichkeit von Glück
Klett-Cotta Verlag 24 €
Anne Rabe, geb. 1986, Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin stand mit ihrem ersten Roman auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2023. Dieser Familienroman spielt vor dem Hintergrund des Mauerfalls und seinen Folgen.
Anne Rabe schildert das Geschehen aus der Sicht von Stine, die 3 Jahre alt war, als es mit der DDR zu Ende ging. Sie erinnert sich an ihre Kindheit, die vor allem durch eine hartherzige, um nicht zu sagen sadistische Mutter geprägt war und von einem eher farblosen Vater, der sich viel zu selten schützend vor Stine und den kleinen Bruder Tim gestellt hatte.
Den besten Bezug hatte sie zu ihrem Opa Paul, doch als erwachsene Frau, nun selbst Mutter von zwei Kindern, spürt sie der Familiengeschichte nach und stellt fest, dass ihr geliebter Opa offensichtlich allzu „staatstragend“ in der DDR gewesen war. Doch bei dieser platten Erkenntnis belässt es Anne Rabe nicht, sie hinterfragt auch die Gründe dafür, die zum Teil in der Nazi-Zeit lagen.
Vieles an diesem Roman, der eine teils essayistische Erzählhaltung an den Tag legt, aber auch viele fiktionale Elemente enthält, erschüttert. Gerade die Tatsache, dass Stines Mutter eine allseits anerkannte Erzieherin gewesen war, ließ mich beim Lesen erschauern. Die Hilflosigkeit der Kinder gegen die Allgewalt der Eltern wie im größeren Zusammenhang auch gegen die Allgewalt des Staates schmerzt.
Auch die Wahrnehmung vieler Menschen, die sich – zumindest im Nachhinein – als Opfer des DDR – Staates sahen, obwohl sie Täter (zumindest Mittäter) waren, fand ich sehr interessant. Das Buch ist umstritten, das ist auch nachvollziehbar, denn das Thema DDR-Vergangenheit ist nun mal ein sehr sensibles. Und es gibt immer mehr als nur eine Wahrheit.
Doch ganz sicher zeigt Anne Rabe in diesem stilistisch sehr guten und in einer klaren Sprache geschriebenen Roman e i n e Wahrheit, die ich als erhellend empfunden habe.
Ein lesenswertes und gutes Buch!
zum Produkt € 24,00*
Dana Vowinckel, Gewässer im Ziplock
Suhrkamp Verlag 23 €
Dana Vowinckel, 1996 in Berlin geboren, studierte Literaturwissenschaft und Linguistik in Berlin, Toulouse und Cambridge. Heute lebt sie wieder in Berlin.
Beim Bachmann-Wettbewerb 2021 erhielt sie den Deutschlandfunk-Preis, ebenso ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats und weitere Nominierungen.
Ganz schön viel Lob für eine Debütantin? Ja, aber vollkommen zu Recht!
Margarita 15 Jahre, lebt mit ihrem Vater, einem Chasan, also einem Kantor, in Berlin, wo sie auch geboren ist. Ihre Mutter, die die Familie sehr früh verlassen hat, lebt in Israel lebt, ihre Großeltern in Chicago. Das mag schon etwas ungewöhnlicher sein, besonders der alleinerziehende Vater, aber das macht noch keinen guten Roman aus.
Der Roman beginnt in den USA, wo Margarita ihre Sommerferien verbringt. Sie langweilt sich, ihren Großeltern bringt sie eher distanzierte Gefühle entgegen, sie vermisst ihre beste Freundin in Berlin und Nico, einen Jungen, mit dem sie schon sexuelle Erfahrungen gesammelt hat.
Kurz bevor sie zurück darf nach Berlin, beschließt die Familie, es sei an der Zeit, dass sie ihre Mutter mal wieder sähe. Also ab ins Flugzeug nach Jerusalem…
Zwischen sehr ambivalenten Beziehungen zur Mutter, die sich jahrelang nicht gekümmert hat, aber auch erotischen Verwicklungen mit einem Jungen aus Tel Aviv, den sie im Flugzeug kennen gelernt hat entwickelt sich eine emotionale Zerrissenheit. Nicht nur diejenige, die wohl alle Teenager kennen, sondern es geht um mehr: Familie, Religion, Sex, Heimat, Einsamkeit, Scham und Schmerz.
Auch wenn der Fokus auf Margarita liegt, lernen wir auch den sanften, unsicheren aber sehr liebevollen Vater gut kennen, dessen Innenleben mich fast ebenso berührt hat.
Ein sehr vielschichtiger, ein sehr kluger Roman, einer der so ist wie ich ihn liebe: sehr pointierte und prägnante Charakterbeschreibungen, große Emotionalität, die sehr weit entfernt von Kitsch ist. Politik und Zeitgeschichte spielen eine Rolle, die Story ist nicht aus der Zeit gefallen, sondern findet hier und jetzt statt, dennoch richtet sich das Hauptaugenmerk auf die Menschen selbst und darauf wie sie darum ringen, ihr Leben gut zu leben.
Großartig auch wie sie – wie nebenbei – jüdische den meisten wohl unbekannte Ausdrücke mit einfließen lässt und wie sie den Spagat zwischen Gläubigkeit, Orthodoxie und Freiheitsbegehren erklärt.
Vielleicht klingt es vermessen, aber für mich spielt diese Debütantin durchaus in der großen Liga mit, ich spüre eine Verwandtschaft mit Autoren wie etwa Jonathan Franzen.
Abgesehen vom Titel, mit dem ich wenig anfangen kann, gibt es rein gar nichts zu kritisieren. Ich war schon lange nicht mehr so begeistert!
zum Produkt € 23,00*
Ulrike Sterblich
„Drifter“
Rowohlt Verlag 23 €
Ulrike Sterblich, 1970 in Berlin geborene Autorin und Politologin, ist vielen wohl noch im Gedächtnis geblieben durch ihr schönes Buch über West-Berlin „Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt“ (sehr gerne denken wir an ihre Lesung daraus in unserer Buchhandlung zurück). Vor zwei Jahren erschien dann ihr Bestseller „The German Girl“.
Mit dem neuen Roman „Drifters“ wird sie hoffentlich wieder mindestens ebenso erfolgreich, denn es handelt sich um eine ausgesprochen witzige, vergnügliche und fantasievolle Geschichte.
Wenzel und Killer (nomen non est omen) sind beste Freunde seit Kinderzeit. Während letzterer PR-Chef einer Firma ist, kümmert sich Wenzel um die oft unsäglich dummen Social-Media Kommentare eines Fernsehsenders.
Doch eines Tages wird Killer von einem Blitz getroffen – und alles ändert sich. Ein tanzender Hund taucht auf, eine unheimliche, aber tolle Frau in einem goldenen Kleid und das Buch des geheimnisvollen, großartigen Schriftstellers Drifter. Doch was ist los mit Killer? Hat ihn der Blitzeinschlag „verrückt“ werden lassen? Jedenfalls ist er sehr anders danach – und die Freundschaft hat einige schwere Prüfungen zu überstehen.
Vica, die Dame in Gold bringt nicht nur das Leben der beiden, sondern des ganzen Wohnblocks, des ganzen Stadtviertels gehörig in Aufruhr. Es geschehen seltsame Dinge, bei denen auch finanzielle Anlagetipps und Verschwörungstheorien eine Rolle spielen.
Eine amüsante Ode an die Freundschaft, ein wunderbar schräges Buch! Ich habe schon lange – wirklich lange – nicht mehr so viel kichern müssen bei der Lektüre eines Romans. Ein großer Lesespaß!
zum Produkt € 23,00*
Caroline Wahl: 22 Bahnen
Dumont Verlag 22 €
Caroline Wahl, 1995 in Mainz geboren, heute wohnhaft in Rostock, hat mit „22 Bahnen“ ihr literarisches Debüt vorgelegt. Sie studierte Germanistik in Tübingen, Deutsche Literatur in Berlin und arbeitete in verschiedenen Verlagen. Für diesen Roman erhielt sie nicht nur den Ulla-Hahn-Autorenpreis 2023, sondern auch viele begeisterte Rezensionen. Gerne füge ich eine weitere hinzu:
Tilda ist nicht nur eine sehr gute Mathematik-Studentin, sondern auch begeisterte Schwimmerin, Supermarktkassiererin, große Schwester von Ida, Tochter einer alkoholkranken Mutter, Freundin von Marlene und eine um Ivan, einen Schulfreund, trauernde junge Frau.
Während fast alle Klassenkamerad:innen die Kleinstadt nach dem Abi verlassen haben, ist Tilda geblieben. Mit ihrer Arbeit an der Kasse verdient sie sich das Geld für ihr Masterstudium, denn zuhause ist dieses knapp. Das Leben mit der Mutter, unberechenbar wenn sie – wie oft – getrunken hat ist schwer für die beiden Töchter. Doch Tilda und Ida haben ein großartiges Verhältnis zueinander und meistern ihren Alltag oberflächlich betrachtet ganz gut. Doch wie soll es weiter gehen? Ihr Professor vermittelt ihr eine Promotion in Berlin, doch kann sie ihre Schwester wirklich allein lassen mit dieser Mutter?
Das Schwimmen – immer 22 Bahnen – ist ein guter Ausgleich und lenkt ein wenig von den Problemen ab. Eines Tages taucht im Schwimmbad Viktor, der Bruder ihres Jugendfreundes Ivan auf, der auch immer 22 Bahnen schwimmt. Er ist zurückgekehrt in die kleine Stadt, um die Wohnung seiner Familie, die bei einem Unglück verstorben ist, aufzulösen.
Es bahnt sich eine Liebesgeschichte zwischen den beiden an, doch auch diese ist ziemlich kompliziert, wie fast alles in Tildas Leben…
Ich bin sehr angetan von der Schreibweise dieser Autorin, sie versteht Themen wie Alkoholismus, Klassismus, Geschwisterbeziehung, Trauerarbeit und Liebe mit einer faszinierenden Leichtigkeit miteinander zu verweben. Dabei bleibt ihr Ton jung und frisch, manchmal etwas rau, dann wieder fast zärtlich – immer aber glaubwürdig.
Ein sehr gutes Debüt einer neuen Stimme in der deutschen Literatur!
zum Produkt € 22,00*
T.C. Boyle, Blue Skies
Übersetzt von Dirk van Gunsteren
Hanser Verlag 28 €
T.C. Boyle hat sich bereits in vielen seiner Romane und Shortstories mit Umweltthemen beschäftigt, doch das gerade erschienene „Blue Skies“ kommt mir vor wie d e r Roman der Stunde.
Boyle erzählt vor dem Hintergrund der Problematik Klimawandel und Artensterben eine Familiengeschichte, die es in sich hat.
Während die Eltern in ihrem Haus in Kalifornien sich durch das Züchten von Heuschrecken als Proteinquelle auf die Klimaveränderung einstellen, erforscht ihr Sohn Cooper Insekten. Tochter Cat lebt in Florida und kauft aus einer Laune heraus eine Tigerpython als Haustier.
Alle aus der Familie lieben Tiere und Natur. Doch die schlägt zurück: Cooper wird von einer Zecke gebissen, er stirbt fast daran. Cats Schlange stellt sich leider als ein doch sehr unsoziales Haustier dar, die Folgen des Kaufes katapultieren sie und ihre Familie in einen Alptraum.
In Kalifornien wird es immer heißer und trockener, viele Menschen sterben an Hitzschlägen – in Florida hingegen steigt der Meeresspiegel, es regnet andauernd und was davon schlimmer ist, mag man sich aussuchen.
Beim Lesen des Romans kam mir das Wort „Klimaanpassung“ in den Kopf, denn auch wenn die Lebensumstände immer unerträglicher werden, passen sich die Menschen - nun ja, die die noch dazu imstand sind - den neuen Gegebenheiten an und Prioritäten verschieben sich.
Bewundernswert finde ich an dem Roman den großartigen Humor, der obwohl viel Schlimmes passiert - das meiste davon leider absolut realistisch – mit viel Situationskomik überzeugt. Über manche Absurdität kann man laut lachen, auch wenn das Lachen dann schnell wieder vergeht.
Höchst unterhaltsam schreibt der Autor hier über eine Zukunft, die schneller kommen kann, als wir es wünschen. Doch ja, es gibt eine kleine Hoffnung am Ende. Zumindest im Roman…
zum Produkt € 28,00*
Dinçer Güçyeter wurde 1979 in Nettetal als Sohn türkischer Gastarbeiter geboren. Nach der Mittleren Reife machte er eine Lehre als Werkzeugmechaniker. Immer noch als Gabelstapelfahrer tätig arbeitet er mittlerweile aber auch als Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger.
Nachdem er letztes Jahr den Peter-Huchel-Lyrikpreis erhielt, hat er nun mit seinem „Deutschlandmärchen“ auch den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 gewonnen. Ich hatte vorher noch nie von ihm gehört, freue mich aber nun sehr, dass ich durch die Preisverleihung auf dieses sehr lesenswerte Buch aufmerksam gemacht wurde.
Ich kann alle verstehen – mir geht es selbst manchmal so – bei denen durch die durch die Flut an autofiktionalen Romanen eine gewisse Ermüdung gegenüber autobiografischen Lebensgeschichten entstanden ist. So banal diese Aussage sein mag, so stimmt dennoch: es kommt darauf an, wie sie geschrieben sind. Und diese hier ist ganz ausgezeichnet geschrieben!
Selten habe ich eine so ungewöhnliche Mixtur aus persönlichen Erinnerungen, poetischer Sprache, Mitgefühl mit den Frauen der Gastarbeiterfamilien und einer harten Beschreibung der Macho-Lebenswelt von Arbeitern gelesen.
Güçyeter bringt neben seiner eigenen viele andere Perspektiven in diesen Familienroman mit ein. Gerade dadurch wird das Buch sehr lebhaft und intensiv. Doch natürlich ist es nicht nur die Sprache, die an diesem Buch fesselt, sondern der Inhalt: viel zu selten haben wir sonst die Gelegenheit aus der Innenansicht von Menschen, die als Arbeitskräfte, und nur als Arbeitskräfte, nach Deutschland gerufen wurden, zu lesen. Wie war das besonders für die Frauen und Mütter, wie für die Kinder wie Dinçer eines war?
„Unser Deutschlandmärchen“ ist eines dieser Bücher, über deren Erfolg ich mich aufrichtig freue und dem ich viele Leser:innen wünsche!
zum Produkt € 25,00*
Der neue große Roman über Liebe, Macht und die Kraft des Erzählens von Booker-Preisträger Salman Rushdie
Südindien im 14. Jahrhundert: Die neunjährige Waise Pampa Kampana wird von einer Göttin auserkoren, ihre menschliche Hülle und ihr Sprachrohr in die Welt zu sein. In ihrem Namen erschafft Pampa aus einer Handvoll Samen eine Stadt: Bisnaga - Victory City, das Wunder der Welt. All ihr Handeln beruht auf der großen Aufgabe, die ihr die Göttin gestellt hat: den Frauen in einer patriarchalen Welt eine gleichberechtigte Rolle zu geben. Aber die Schöpfungsgeschichte Bisnagas nimmt mehr und mehr ihren eigenen Lauf. Während die Jahre vergehen, Herrscher kommen und gehen, Schlachten gewonnen und verloren werden und sich Loyalitäten verschieben, ist das Leben von Pampa Kampana untrennbar mit dieser Stadt verbunden. Von seinem Aufstieg zu einem Weltreich bis zu seinem tragischen Fall.
Mit »Victory City« kehrt der große Erzähler Salman Rushdie nach Indien zurück, mit einem modernen epischen Roman über Macht, Liebe und darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)
zum Produkt € 26,00*
Tarjei Vesaas, Der Keim
Guggolz Verlag
Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel
Nachwort von Michael Kumpfmüller
Vesaas (1897 -1970) ist einer der wichtigsten norwegischen Schriftsteller. Mehrmals wurde er als Kandidat für den Literaturnobelpreis genannt. Es ist ein großes Glück, dass der Guggolz Verlag diesen Autor dem Vergessen entrissen hat – und für die deutsche Leserschaft nun in der hervorragenden Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel bereits der dritte Roman zugänglich gemacht wurde.
„Der Keim“ ist bereits 1940 erschienen, „Die Vögel“ und „Das Eisschloss“ (beides hervorragende Bücher!) kamen später heraus.
Der Roman spielt auf einer kleinen Insel, deren Bewohner Bauern sind. Eines Tages legt ein Fremder mit einem Schiff an. Ein Mann, der die wenigen Menschen, die ihm begegnen fasziniert. Doch Andreas ist ein Verlorener, ein Wahnsinniger, der nicht weiß was er auf der Insel will, er fühlt sich gerufen. Als er auf Inga, die Tochter des größten Bauern trifft, tötet er sie. Was daraufhin folgt ist eine Hetzjagd quer über die Insel, die Dorfbewohner verfallen einem regelrechten Blutrausch, der mit dem Tod des Mörders endet.
Doch wie kann nach einer solchen Tat das Leben weiter gehen? Wie umgehen mit der Schuld, Selbstjustiz begangen zu haben? Die Suche nach einem Sündenbock ist schnell erledigt: Rolv, Ingas Bruder ist derjenige, der alle anderen angestiftet haben soll. Doch eigentlich waren es (fast) alle die sich beteiligten.
In einer unnachahmlichen Weise lässt Vesaas uns die inneren Abgründe, Hoffnungen, Ängste und Schamgefühle der verschiedenen Inselbewohner mit erleben. Durch eindrucksvolle Schilderungen von Tieren und deren Verhalten verstärkt sich die starke Atmosphäre eines unglaublichen Ausnahmezustands.
Schuld und Sühne – das könnte als Überschrift stehen. Ein unglaublich kraftvolles und aufrüttelndes Buch in einer klaren Sprache.
Großartig!
zum Produkt € 24,00*
Annika Reich, Männer sterben bei uns nicht
Hanser Verlag 23 €
Die Schriftstellerein Annika Reich, 1973 in München geboren, in Berlin lebend, ist mir als Künstlerische Leiterin des politisch-kulturellen Flüchtlingsprojekts „WIR MACHEN DAS“ in guter Erinnerung. Warum „Männer sterben bei uns nicht“ trotzdem das erste Buch ist, das ich von ihr lese, ist mir rätselhaft. Sicher wird es nicht das letzte sein.
Sie erzählt hier eine Familiengeschichte aus der Sicht Luises, die mit 30 Jahren durch den Tod der Großmutter zur Erbin eines schönen Anwesens mit fünf Häusern wird. Diese Großmutter hatte Zeit ihres Lebens alles zusammengehalten, aber auch alle auf Abstand. Luise litt darunter, dass sie als Kind kurz hintereinander zwei Frauenleichen an dem ans Grundstück grenzenden See gefunden hatte, noch mehr aber litt sie unter dem Verschwinden ihrer über alles geliebten Schwester Leni.
Dass Leni nicht einfach „verschwunden“, sondern von der herrischen und immer auf den Schein achtenden Großmutter aufs Internat geschickt wurde, erfährt man erst nach und nach.
Die Verwundungen in dieser Familie voller Frauen - Schwestern, Müttern, Großmüttern, Tanten und auch der Haushälterin – legt Annika Reich in einer klaren, gut zu lesenden, aber literarischen Sprache offen. Die eine flieht in den Alkohol, die andere sammelt wertvolle Gegenstände, wieder eine andere verdrängt alle Probleme und nimmt nichts wahr – alle möchten eigentlich eine Beziehung zu den anderen haben, doch Vereinzelung, Neid und Trauer vereiteln das.
Obwohl die Männer in dem Roman kaum eine Rolle spielen, ist es dennoch auch ein Buch über das Patriarchats und über den Einfluss, den dieses auf die Frauen hat.
Ein hintergründiges Buch über Beziehungen, über den Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart und über starke und weniger starke Frauen.
zum Produkt € 23,00*
Tiziano Scarpa - “Stabat Mater”
übersetzt von Olaf Matthias Roth
Wagenbach Verlag, 22 €
Ich freue mich sehr, dass der Wagenbach Verlag dieses Buch in einer Neuauflage - diesmal in der schönen roten Salto Reihe - veröffentlicht hat. Ich hatte es bereits 2009, nachdem es mit dem Premio Strega, dem höchsten Italienischen Literaturpreis, ausgezeichnet wurde, gelesen. Aber auch beim zweiten Lesen weiß dieses Buch zu überzeugen.
Der nur 144 Seiten kurze Roman ist konsequent aus der Sicht Cecilias, eines 15-jährigen Mädchens geschrieben. Cecilia wächst in einem Waisenhaus in Venedig auf, sie kennt weder ihre Mutter noch irgendetwas außerhalb des Waisenhauses.
Fast jede Nacht schleicht sie sich in ein abgelegenes Treppenhaus und schreibt dort Briefe an ihre unbekannte Mutter. Immer wieder gesellt sich “der Tod“ in Form einer Frau mit Schlangenhaar zu ihr. Der Roman besteht im Wesentlichen aus diesen Briefen an die Mutter und aus seltsam tröstlichen Gesprächen mit dem Tod. Zumindest so lange bis ein dritter Gesprächspartner hinzukommt: der neue Musiklehrerin Antonio Vivaldi. Dieser erkennt Cecilias große musikalische Begabung und fördert sie. Allerdings zu einem hohen Preis.
Vivaldi hatte tatsächlich an diesem Waisenhaus gelehrt, der Rest des Romans ist fiktiv. Was mich so sehr beeindruckte, ist vor allem die Intensität und Drastik, mit der Cecilias Einsamkeit in Worte gefasst wurde. Aber auch den großen Stellenwert von Musik habe ich selten in so ungewöhnlicher Form vermittelt bekommen. Das ist ein starkes und dramatisches Buch, dem es auf wenigen Seiten gelingt, zu fesseln. Und eines, das dazu verführt, sofort die Musik von Vivaldi auflegen zu wollen.
Wer allerdings eine Art Romanbiografie Vivaldis erwartet, wird enttäuscht, denn der Fokus liegt eindeutig auf diesem einsamen und eigenartigen Mädchen auf der Suche nach sich selbst.
zum Produkt € 22,00*