Wir lesen aus Passion. Hier findet ihr die Bücher, die wir besonders gemocht haben, und wir sagen euch auch, warum.
Philipp steht kurz vorm Abitur und mäandert so durch sein Leben. "Schneckchen" wird er von seinem besten Freund Lorenz genannt, und das ist vielleicht ein Zufall, sicher aber lebt Philipp innerlich recht zurückgezogen. Sein Leben besteht aus Re-Agieren. Eigentlich nicht mal das, er lässt einfach mit sich geschehen. Sich mit Lorenz zu treffen, zumeist zum Kiffen auf dem Friedhof, ist so ziemlich das Einzige, was an Aktivität von ihm ausgeht.
Es geht ihm nicht schlecht, sein Vater ist anerkannter und wohlhabender Chirurg, seine junge Stiefmutter begegnet ihm auf Augenhöhe. Die Pathetik der Situation ist ihm sehr wohl bewusst: "Hier saß er herum in seinem Oberschicht-Zimmer und konnte sich nicht überwinden, sich ein paar dumme Formeln in den Kopf zu hämmern."
Nach und nach aber kommt zum Vorschein, dass Philipps Passivität auch ein Schutz zu sein scheint, der mit seiner impulsiven, an einer bipolaren Störung erkrankten Mutter zusammenhängt. Nach mehrjähriger Funkstille ist sie plötzlich wieder präsent und bringt ein paar Dinge in Bewegung.
Annika Büsings Roman ist ein wunderschönes Leseerlebnis. Ihr Tonfall und Humor sind lebendig und unvermittelt, die Charaktere so liebevoll und komplex gestaltet, dass das Ganze zuweilen fast übernatürlich erscheint in Großherzigkeit und Witz.
"Wir kommen zurecht" ist jenseits der Familiengeschichte und des Coming-of-Age vor allem eine Geschichte über Freundschaft und eine Erzählung davon, manche Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind. Auch, weil sie vielleicht grade keine bessere Version ihrer selbst sein können.
Ob Philipp nun am Ende aus dem Häuschen gekrochen kommt bleibt, für mein Verständnis, ein bisschen ungeklärt, ist aber auch egal - es kommen alle irgendwie zurecht.
zum Produkt € 24,00*
HEN NA E - Seltsame Bilder von Uketsu, erschienen bei Bastei/Lübbe und übersetzt von Heike Patzschke.
Ein rätselhafter Blogeintrag mit Zeichnungen, eine Kinderzeichnung von einem seltsamen Haus, die Skizzen eines Zeichenlehrers, der unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist: Hängen alle diese Bilder zusammen? Zwei Journalisten kommen dem Geheimnis auf die Spur...
Uketsus Schreibstil ist distanziert und erinnert eher an einen analytischen Aufsatz, was die Spannung jedoch auf subtile Weise verstärkt.
Im Wechsel zwischen den verschiedenen Lebensgeschichten lässt Uketsu den Lesenden in menschliche Abgründe eintauchen, die oft im Kontrast zu den scheinbar einfachen Leben der Protagonisten stehen. Uketsu spielt mit den Erzählperspektiven und zeigt, wie sehr der erste Eindruck täuschen kann.
Diese Kombination ergibt einen absolut empfehlenswerten, fesselnden und ungewöhnlichen Krimi.
zum Produkt € 24,00*
In Dantessa herrschen die Spiele. Aber nicht nur in Form regelmäßiger oder anlassbezogener Ereignisse, sondern permanent. Alle Einwohner:innen des Stadtstaats müssen ununterbrochen spielen um Punkte zu gewinnen und so einen Rang auf der gesamtgesellschaftlichen Skala zu (er)halten. Wessen Rang auf Null fällt, der:die wird auf die Gesindeinseln verbannt.
Und Spiele gibt es jeder Art und Intensität: von simpel bis risikoreich, gespielt nebenbei auf der Straße oder in casinoähnlichen Spielpalästen. Zusätzlich findet einmal im Jahr ein spektakelartiges Ereignis des Spiels Noctis statt, im Rahmen dessen 4 Teams bestehend aus je 5 jungen Menschen gegeneinander antreten. Sie treten aber auch gegen die Todesfee an, die - so sagt man - auf Rache und Seelen sinnt, nachdem sie dereinst von der Prinzessin von Dantessa im großen Noctis besiegt worden war. Die Todesfee soll es sein, die die Spiele am Laufen und Dantessa unter ihrer Kontrolle hält.
Protagonistin der Geschichte ist Pia, die sich in einem zusammengewürfelten Team aus freiwillig und unfreiwillig Ausgestoßenen und Herkunftslosen in der Endrunde von Noctis wiederfindet. Im Gewinnen sieht sie die einzige Chance ihren auf die Inseln verbannten Großvater zu retten. Doch noch nie hat ein Team aus dem armen Viertel der Stadt Noctis gewinnen können.
"Game of Noctis" ist eine sehr intelligente Geschichte über eine Gesellschaftsform, die verspricht, dass jede:r Mensch, jedes Team im Großen Spiel es schaffen kann, spielt man nur fair und trainiert hart.
Deva Fagan vermeidet in der Konstruktion der Geschichte und der Figuren simple gut/böse Dichotomien. Zwar zeigt sie unmissverständlich, wie gewisse Kreise und Schichten der Gesellschaft von den Spielen profitieren, doch wird deutlich, dass es das fehlende Hinterfragen des gesamten Narrativs ist, dass den Status Quo erhält.
Die Spielszenen sind zuweilen etwas unübersichtlich und im Verhältnis zur Detailfülle der gesamten Geschichte eher hastig abgearbeitet. Schlussendlich aber kommt das nur der Entwicklung und Interaktion der Charaktere in den weniger actiongeladenen Szenen zugute. "Game of Noctis" ist eine große Leseempfehlung, insbesondere für Leute ab 10 Jahren. Eine Geschichte, die einlädt, ab und zu mal zu fragen, ob alles wirklich so sein muss, wie es ist, und die zudem daran erinnert, dass Spiele dafür da sind "Hoffnung und Freude zu schenken, sich lebendig zu fühlen".
zum Produkt € 15,00*
Oliver Lovrenski erzählt in seinem Debüt von vier norwegischen Jugendlichen und wie sie zu jungen Erwachsenen werden, indem sie durch Tage voller Drogenkonsum und -handel, Straßen- und Familiengewalt taumeln. Vorab ist klar: Es gelingt wohl nicht allen vieren das besagte Alter zu erreichen.
Es sind kurze, aneinandergereite Szenen - die meisten nicht länger als eine halbe Seite - die im unsteten Wechsel Alltagsausschnitte der Jungen beschreiben und Introspektion des Erzählers Ivor abbilden. Das alles ist ein nur durch Kommata und die Kapitelumbrüche strukturierter Strom, der mit einer eindringlichen Melodik durch die Szenen trägt; eine eigene Sprache zudem, mit Versatzstücken aller communities, aus denen die Jungs kommen.
Was deutschsprachige Leser:innen hier vor die Augen kriegen, ist die Übersetzung von Karoline Hippe. Keine Ahnung, was genau Lovrenski im Original geschrieben hat, aber das hier liest sich großartig!
Es ist erstaunlich, wie gut es Lovrenski gelingt, eine von außen betrachtet nicht unbekannte Geschichte derart ergreifend zu erzählen. Die Thematik der verlorenen und abgehängten Jugend, die trotz aller ausgelebten Gewalt, eigentlich auch nur die Liebe zu den Freunden und die Sehnsucht nach Stabilität in sich trägt, erfährt hier durch die ungewöhnliche Form und die kunstvolle Erzählweise eine ganz neue Schattierung.
Die vier Jungs sind kaum Identifikationsfiguren und nur bedingte Sympathieträger und dies ist eine gewaltvolle Geschichte. Worum es hier aber neben dem Sozialrealismus geht, sind die geknüften Bande und die bedingungslose Sorge der Jungen für- und umeinander. Sie gehen in ihrer Existenzialität und Kraft über so manches hinaus, was ich in letzter Zeit gelesen habe.
zum Produkt € 22,00*
Eva Herbergen ist Strafverteidigerin. Ihre Aufgabe ist es, Menschen vor Strafe zu bewahren: die berühmte Schriftstellerin, den gebrechlichen Millionär, die überforderte Stiefmutter. Sie weiß, es braucht nicht viel, dass ein dunkler Moment genügt, der die Wendung markiert - zum Opfer oder zum Täter- und mit jedem Fall, in dem die Grenze zwischen Gerechtigkeit und Recht verschwimmt, lösen sich ihre Gewissheiten auf. Bis sie sich fragt, welche Konsequenzen sie ziehen muss.
Die Gedanken und Reflexionen, die sowohl Eva als auch die Nebenfiguren anstellen, sind sehr eindringlich. Sie zwingen uns dazu, unsere festen Meinungen zu hinterfragen und die Komplexität menschlichen Handelns zu erkennen. Man möchte nicht hinsehen, kann aber auch nicht wegsehen – diese innere Zerrissenheit bleibt haften und die tiefgreifenden Auseinandersetzungen mit Moral und Gerechtigkeit hinterlassen einen bleibenden Eindruck. „Dunkle Momente“ ist ein Buch, das man gelesen haben sollte – berührend und zutiefst menschlich. Absolut empfehlenswert!!
zum Produkt € 22,00*
Kriminalpsychologe Simon Dorn lebt nach persönlichen Schicksalsschlägen zurückgezogen im mysteriösen Hotel Dornwald. Dort verwandelt jeden Raum in eine Crime-Studie.
Becks anschauliche Beschreibungen des Hotels und der Charaktere lassen die düstere Atmosphäre lebendig werden. Der Autor versteht es meisterhaft, mit wenigen Worten eine eindringliche Spannung aufzubauen. Ein packendes Leseerlebnis, das die Psyche erkundet und bis zur letzten Seite fesselt!
zum Produkt € 16,00*
"Meine Mutter hinterließ kein Testament, weil es nichts zu vererben gab. Sie hatte kein Sparbuch, keine Wertpapiere, keine Immobilie. "
DIDIER ERIBON: EINE ARBEITERIN. LEBEN, ALTER UND STERBEN.
Seit "Rückkehr nach Reims" (dt. 2016) hat der französische Soziologe und Philosoph Didier Eribon auch in Deutschland einen Namen, der fast immer fällt, wenn es um Klassismus geht.
Im vergangenen Jahr ist ein weiterer autobiographischer Essay erschienen.
Eribons Mutter, geprägt von einem Leben als Fabrikarbeiterin, ist alt und hilfebedürftig geworden. Sie muss in ein Pflegeheim ziehen, ein letzter und unfreiwilliger Umzug, sie wird herausgerissen aus allem, was ihr vertraut war und Sicherheit gegeben hat.
Dies wird zum Ausgangspunkt für Eribons schonungslose Analyse von Alter und Sterben.
Was bleibt vom Ich, wenn Gebrechlichkeit keine Autonomie mehr zulässt, das Leben leer wird und keine Zukunft mehr möglich ist?
Wenn man abhängig wird von einem entwürdigenden Pflegesystem?
Wer gibt den unsichtbar gewordenen und unsichtbar gemachten Alten eine Stimme?
Ein augenöffnender, beeindruckender, absolut lesenswerter Essay für alle, die den Mut haben, sich mit existentiellen Fragen von Leben, Alter und Sterben auseinanderzusetzen.
zum Produkt € 15,00*
Franz Escher wartet auf den Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt. Um sich die Zeit zu vertreiben, liest er ein Buch über den Mafia-Kronzeugen Elio Russo. Elio sitzt im Gefängnis und wartet auf die Entlassung. Er hat so viele Leute verraten, dass er um sein Leben fürchtet. Aus Angst liegt er nachts wach und liest ein Buch. Es handelt von Franz Escher. Der wartet auf den Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt.
In jeder Zeile spürt man das Vergnügen mit dem Wolf Haas seine Worte wählt und dabei so einige Regeln des Romanschreibens über Bord wirft. Das Buch entfaltet sich wie ein lebendiges Wesen, das den Leser in seinen Bann zieht und ihn nicht mehr loslässt
Auf dem Weg zum Ende hin blättert man doch noch mal vor und zurück (jedoch ist dies kein Muss), da sich viele Hinweise, Anspielungen und Details in der gesamten Geschichte verstecken, die für den Ausgang eine wichtige Rolle spielen. So verwandelt sich das Buch selbst in ein Puzzle. Es ist eine Hommage an die Macht des Geschichtenerzählens. Ebenso eine wahrhaft meisterliche Story, die nicht nur unterhält, sondern auch zum Rätseln anregt und süchtig macht. Sie lässt sich sogar unendlich weiterlesen ;)
zum Produkt € 25,00*
Es ist 1914 und die Tage der Internatsschüler Sidney Ellwood und Henry Gaunt sind wohlbehütet und sorglos.
Sie schmeißen sich gegenseitig Tennyson und Thucydides an den Kopf, diskutieren abstrakt über das Für und Wider das Krieges (Ellwood glaubt an die Glorie des Empires, Gaunt sieht nicht, warum er sich erschießen lassen sollte, weil irgendein Serbe einen österreichischen Adligen getötet hat) und sind tunslichst darauf bedacht sich nicht gegenseitig zu berühren. Aber auch für sie rückt der Krieg näher, die Namen der gefallenen Mitschüler werden mehr und mehr. Als Gaunt - aufgrund seiner preußischen Mutter ohnehin im Verdacht ein deutscher Spion zu sein - auf der Straße eine weiße Feder ausgehändigt bekommt und seine Gefühle für Ellwood ihn komplett zu überwältigen drohen, meldet er sich (18jährig und eigentlich zu jung) für die Front. Ellwood folgt ihm bald, so wie auch ein Großteil ihrer Schulkameraden.
Alice Winns Roman ist zu gleichen Teilen eine Geschichte von Liebe und Krieg und ein überwältigendes Buch. Die Charaktere sind mit einer leuchtenden Lebendigkeit gezeichnet, die dem unbeschreiblichen Horror der Schützengräben in Frankreich und Belgien gegenübersteht.
Die politischen Gründe und Auslöser für den Krieg spielen keine Rolle in der Geschichte, eben weil sie für diejenigen an der Front, die (metaphorisch) auf ihre Brüder und (buchstäblich) auf ihre Cousins schießen müssen, *keine Rolle spielen*.
Die sowjetische Politikerin Alexandra Kollontai schrieb 1918: "Fragt einen beliebigen Soldaten [...], wofür sie kämpften, wozu sie das Blut ihrer Brüder vergossen haben [...]. Sie können nichts sagen, keine Antwort geben, weil sie es selbst nicht wissen."
Man mag anmerken, dass es keine wirklichen Antagonist:innen gibt, dass es der Zufälle dank derer Ellwood und Gaunt immer wieder vom Verbleib des jeweils anderen erfahren, zu viele sind. Aber das tut nichts zur Sache, denn der Krieg und das Verbot homosexueller Beziehungen sind die permanente Bedrohung, die sich in die Leben aller Beteiligten frisst und sie zerstört. "In Memoriam" ist in dieser Fokussierung ein sehr intelligentes Buch und schlussendlich reflektiert Winn ebenjene Fragen (heißt: Privilegien) der Klassenzugehörigkeit und thematisiert, wie nebenbei, den erstarkenden Antisemitismus, auch in der englischen Gesellschaft.
Ursula Wulfekamp und Benjamin Mildner haben das Buch als "Durch das große Feuer" ins Deutsche übersetzt. Die Jugendjury des Jugendliteraturpreises hat dieses Buch im letzten Jahr ausgezeichnet.
zum Produkt € 18,00*
Wie schon ihr Debüt "Licht zwischen den Bäumen" ist auch Una Mannions neues Buch "Sag mir was ich bin" -erschienen bei Steidl in der Übersetzung von Tanja Handels - eine Geschichte von häuslicher Gewalt und (wahl-)familiärem Zusammenhalt, der sich einer einfachen Genrekategorisierung entzieht. ????
Im Mittelpunkt der Handlung steht das plötzliche Verschwinden von Deena Garvey. Ihre Schwester Nessa kann nicht glauben, dass Deena sich wortlos abgesetzt und ihre kleine Tochter Ruby zurückgelassen haben soll, doch die Polizei findet keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen und so wird der Fall bald zu den Akten gelegt. Die Abwesenheit Deenas reißt ein Loch in Nessas Leben, von dem sie sich nicht erholen kann. Die vierjährige Ruby wird in die Obhut ihres Vaters Lucas gegeben und wächst bei ihm und seiner Mutter im ländlichen Vermont auf, abgeschnitten nicht nur von der Welt, sondern auch von jeglichem Wissen über ihre Mutter und deren Familie.
Von einer weniger behutsamen Autor:in geschrieben, wäre "Sag mir was ich bin" leicht zu einem reißerischen Thriller geworden. Aber Tempo und Tonfall bleiben bedächtig und laufen beinahe quälend langsam auf die unvermeidliche Erkenntnis zu. In Rückblenden werden Rubys Aufwachsen und Nessas Versuch des Weiterlebens erzählt, beides im mehr oder weniger expliziten Versuch sich der weitreichenden Manipulation von Lucas zu entziehen. Die Erzählung driftet an keinem Punkt ins Voyeuristische ab; Mannion schafft den Balanceakt, die Verletzungen der Protagonistinnen klar zu zeigen, ohne sie auf einen Opferstatus zu reduzieren, und ihnen gleichzeitig einen Raum zur Emanzipation zu geben. Große Empfehlung!
zum Produkt € 28,00*