Berlin, Anfang der Dreißigerjahre. Erich Kästner befindet sich auf dem Höhepunkt seines Erfolgs: «Pünktchen und Anton» und «Das fliegende Klassenzimmer» begeistern international, «Emil und die Detektive» wird 1931 verfilmt (Drehbuch Billy Wilder). Dann die Zäsur: Als die Nazis die Macht übernehmen, entscheidet sich Kästner, in Deutschland zu bleiben. Er, der kurz zuvor noch ein Spottgedicht auf Hitler verfasst hat, muss vor Ort mitverfolgen, wie seine Bücher verbrannt werden; bald darauf erhält er Publikationsverbot. Und doch gelingt es ihm, über die Runden zu kommen, und das nicht einmal schlecht. Er schreibt unter Pseudonymen, übernimmt Auftragsarbeiten, zuletzt auch für die UFA, die längst von Goebbels politisch instrumentalisiert wird. All das wirft Fragen auf: Wie weit passte Kästner sich im Dritten Reich an, wo bekannte er Farbe? Wie schmal war der Grat, auf dem er wandelte?
Tobias Lehmkuhl beleuchtet dieses Kapitel im Leben des großen deutschen Erfolgsautors. Wir begleiten Kästner bei seinen Streifzügen durch die Stadt, folgen seinem publizistischen Maskenspiel – und lernen dabei den Moralisten, Verseschmied und Schöpfer zeitlos-populärer Kinderbücher und Romane noch einmal neu und anders kennen.
Tobias Lehmkuhl studierte in Bonn, Barcelona und Berlin. Seit 2002 arbeitet er als freier Journalist, u.a. für «Die Zeit», Deutschlandfunk und die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». 2018 erschien seine Nico-Biographie. 2017 erhielt Tobias Lehmkuhl den Berliner Preis für Literaturkritik.
Autorenfoto: © Bernhard Ludewig
Zum Einstieg in die Woche der unabhängigen Buchhandlungen haben wir in diesem Jahr wieder einen unabhängigen Verlag eingeladen, sich unseren Kund:innen und uns vorzustellen: Wir freuen uns auf den Berliner Quintus-Verlag, 2016 vom Verleger André Förster gegründet, um das kulturwissenschaftliche Programm des Verlages für Berlin-Brandenburg (vbb) eigenständig und unabhängig von der Region weiterzuentwickeln. Die Programmschwerpunkte sind Belletristik (Prosa und Lyrik) und Literaturwissenschaft.
Kommt vorbei, schaut euch die Neuerscheinungen und Bestseller des Verlages an, sprecht mit dem Verleger und freut euch auf einen Überraschungsgast.
Christa Wolf, Brigitte Reimann, Maxie Wander – waren sie Träumerinnen oder Macherinnen, diese drei Frauen, die zu Ikonen der DDR-Literatur wurden? In ihrem atmosphärischen Porträt zeigt Carolin Würfel drei Schriftstellerinnen, die im Temperament unterschiedlicher kaum sein konnten und die doch eines einte: die Begeisterung für das Versprechen des Sozialismus, die Bereitschaft, den Traum vom neuen Menschen in ihrem Alltag, ihrer Arbeit und ihren Beziehungen umzusetzen. Mit welchem Selbstbewusstsein diese Frauen in den 1950er und 1960er-Jahren ihre Ziele verfolgen, sich dabei als Freundinnen stützen – wie ihre Träume aber auch platzen, davon erzählt Carolin Würfel inspiriert und mitreißend und lässt ein Stück Zeitgeschichte lebendig werden.
Carolin Würfel, geboren 1986 in Leipzig, studierte Geschichte und Publizistik in Berlin und Istanbul. Sie arbeitet als freie Autorin und Journalistin, insbesondere für die Wochenzeitung Die Zeit. 2019 erschien von ihr: Ingrid Wiener und die Kunst der Befreiung.
Foto: Carolin Würfel 2022
Copyright: Lea Hopp
Eine Frau – Mutter, Partnerin, Versorgerin – fährt eines Morgens nicht zur Arbeit, sondern in die Psychiatrie. Am Abend hat sie sich mit ihrem Partner gestritten, vielleicht ist etwas zerbrochen, jetzt muss sie den Tag beginnen, sie muss die Tochter anziehen, an alles denken, in der Wohnung und ihrem Leben aufräumen. Doch sie hat Angst: das Geld, die Deadline, die Beziehung, nichts ist unter Kontrolle, und vor allem ist da die Angst um ihren Stiefvater, der früher die Welt für sie geordnet und ihr einen Platz darin zugewiesen hat. In der Psychiatrie, denkt sie, wird jemand sein, der ihr sagt, wie ihr Problem heißt. Dort darf sie sich ausruhen.
Siegfried ist ein Roman über alte Ordnungen und neue Ansprüche, über Gewalt und das Schweigen darüber, über eine Generation, deren Eltern nach dem Krieg geboren wurden und deshalb glaubten, er sei vorbei.
Antonia Baum, geboren 1984, ist Schriftstellerin und Autorin für DIE ZEIT. Ihre Bücher – zuletzt der Roman Tony Soprano stirbt nicht, das Memoir Stillleben und eine persönliche Bestandsaufnamen des Werkes von Eminem – haben große Medienresonanz erhalten. Siegfried ist ihr erster Roman im Claassen-Verlag.
Copyright Foto: Urban Zintel
Anne Rabe gehörte als Drehbuchautorin zum Team von "Warten auf'n Bus", großartige Dialoge, sehr komisch, aber auch sehr feinsinnig und tiefgründig im Umgang mit ostdeutschen Nachwendegeschichten. Wir sind also gespannt auf das Prosadebüt der Autorin!
Darum geht's: In der DDR geboren, im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen. Als die Mauer fällt, ist Stine gerade einmal drei Jahre alt. Doch die Familie ist tief verstrickt. In ein System, von dem sie nicht lassen kann, und in den Glauben, das richtige Leben gelebt zu haben. Bestechend klar und kühn erzählt Anne Rabe von einer Generation, deren Herkunft eine Leerstelle ist.
Anne Rabe, geboren 1986, ist Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin. Ihre Theaterstücke wurden mehrfach ausgezeichnet. Als Drehbuchautorin war sie Teil der Kultserie »Warten auf’n Bus«. Seit mehreren Jahren tritt sie zudem als Essayistin und Vortragende zur Vergangenheitsbewältigung in Ostdeutschland in Erscheinung. »Die Möglichkeit von Glück« ist ihr Prosadebüt.
Das Buch erscheint bei Klett-Cotta am 18. März 2023.
Zwischen Erinnerungen und verwirrender Gegenwart versucht die achtzigjährige Opernsängerin Helene Billerbeck, ihren Alltag zu meistern. Nachbarin Maike hat eine beunruhigende Ahnung und zieht Helenes Sohn Ole ins Vertrauen. Dieser bringt seinen Freund Mourad, einen jungen iranischen Geflüchteten, im Haus der Mutter unter und bittet ihn, sich um sie zu kümmern. Mit seiner Hilfsbereitschaft und den stimmungsvollen Erzählungen über seine Heimat und Träume gewinnt Mourad die Sympathien von Helene, Maike und der Postfrau Irma. Doch um sein Bleiberecht muss er kämpfen. Seine Hoffnung, durch Ole Unterstützung zu erfahren, wird mehr und mehr enttäuscht. Als schließlich auch noch Helenes Smaragdring verschwindet, glaubt Mourad, unter Verdacht zu stehen …
Jörn van Hall eröffnet in seinem Debüt Perspektiven auf Verlusterfahrungen: den Verlust von Heimat und das Schwinden der Erinnerungen. Dabei trifft er mit staunenswerter Sprachkunst einen Ton, der lange nachklingt.
Jörn van Hall, Jahrgang 1970, studierte Jura in Hannover und Berlin.
Von 2000 bis 2007 lebte er in Großbritannien und arbeitete als Editor für die Legalease Ltd London, danach bis 2021 im deutschen Verlagswesen.
Jörn van Hall lebt und schreibt in Berlin und auf dem mecklenburgischen Land.
Copyright Autorenfoto: Barbara Dietl
Molly Carver bleiben fünfunddreißig Tage, um die Unschuld ihres Vaters zu beweisen.
Seit Jahren sitzt er für den Mord an dem sechzehnjährigen Casper Rosendale im Gefängnis – nun soll das Urteil vollstreckt werden. Auf der Suche nach Antworten kehrt Molly zurück in das Ostküstendorf ihrer Kindheit. Unter falschem Namen beginnt sie, als Hausmädchen für die Rosendales zu arbeiten, eine Familie, die einmal einflussreicher war als die Rockefellers.
Die Geschichte ist spannend erzählt, aber doch kein Krimi im herkömmlichen Sinn. Takis Würger zeichnet das Portrait einer Gesellschaft voller Widersprüche, zeigt die unfassbare Schere zwischen Arm und Reich und beleuchtet die Folgen, mit denen nicht nur das heutige Amerika zu kämpfen hat.
Takis Würger, geboren 1985, berichtete als Journalist für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel u. a. aus Afghanistan, Libyen und dem Irak. Mit seinen Reportagen gewann er zahlreiche Preise, darunter den Deutschen Reporterpreis und den CNN Journalist Award. Mit 28 Jahren ging er nach England, um an der Universität von Cambridge Ideengeschichte zu studieren. 2017 erschien sein Debütroman Der Club, der für den aspekte-Literaturpreis nominiert war und mit dem Debütpreis der lit.Cologne ausgezeichnet wurde. 2019 erschien der Roman Stella, 2021 der biografische Bericht Noah – Von einem, der überlebte. Seine Bücher sind in zwölf Ländern erschienen. Für seinen aktuellen Roman Unschuld hat Takis Würger mehrere Monate im Hudson Valley recherchiert.
Foto von Takis Wuerger ©Peter Rigaud
Anna Seghers, Bertolt Brecht, Stefan Heym, Jürgen Kuczynski, Paul Dessau und viele andere wurden wegen ihrer jüdischen Herkunft oder wegen ihrer kommunistischen Überzeugung im "Dritten Reich" verfolgt und mussten Deutschland verlassen. Nach dem Exil in England, den USA oder Mexiko wählten sie die Sowjetische Besatzungszone bzw. die DDR als Heimat. Die Konflikte zwischen den Westremigranten und jenen, die aus Moskau in den Ostteil Deutschlands zurückkehrten, gehören zu den zentralen Problemen der DDR-Geschichte. Diesen Intellektuellen schlugen Misstrauen und Verdächtigungen entgegen. Dennoch stützten sie das System und stellten es zugleich infrage. Einzig innerhalb der Partei trugen sie ihre Kritik vor, in der Öffentlichkeit schwiegen sie. Mit dieser Praxis beeinflussten sie auch die Folgegeneration, als deren Repräsentantin Christa Wolf gelten kann. Sonia Combe zeichnet in ihrem Buch die Kämpfe und Gewissenskonflikte dieser kritischen Marxisten nach und fragt, welchen Preis sie für ihre Loyalität zahlten.
Auch in diesem Jahr feiern wir in der Woche der unabhängigen Buchhandlungen, die nun schon zum neunten Mal stattfindet, mit unseren Kund*innen und über 800 inhabergeführten Buchhandlungen unsere Unabhängigkeit.
Aus diesem Anlass laden wir besonders gern kleine unabhängige Verlage ein, sich uns und unseren Kund*innen vorzustellen. In diesem Jahr ist der Berliner Quintus-Verlag bei uns zu Gast.
Der Verlag wurde 2016 gegründet, um den kulturwissenschaftlichen Programmbereich des Verlages für Berlin-Brandenburg eigenständig und unabhängig von regionaler Zuordnung weiterzuentwickeln. Seine Programmschwerpunkte liegen zum einen in der Literaturwissenschaft und zum anderen in der Belletristik (Prosa und Lyrik).
Gemeinsam mit der Autorin Kerstin Hensel wird der Verleger André Förster diesen Abend gestalten und Verlag und ausgewählte Bücher vorstellen.
Gusel Jachina, eine der bedeutendsten russischen Gegenwartsautor*innen, ist wieder bei uns zu Gast!
Nach "Wolgakinder" hat sie ein neues großes historisches Epos geschrieben, eine "ungeschminkte Auseinandersetzung mit einem düsteren Kapitel der Sowjetgeschichte und ein Roman der starken Emotionen." (Aufbau)
Kasan 1923: Im Wolgagebiet herrscht große Hungersnot. Dejew, ein ehemaliger Soldat auf der Seite der Roten, soll fünfhundert elternlose Kinder mit einem Zug nach Samarkand schaffen, um sie vor dem sicheren Hungertod zu retten. Aber es fehlt an allem für den Transport: Proviant, Kleidung, Heizmaterial für die Lokomotive, Medikamente. Ein Roadmovie durch ein total zerrüttetes Land beginnt, in dem in weiten Teilen immer noch der Bürgerkrieg wütet. Dejew, der selbst ein dunkles Geheimnis mit sich herumträgt, scheut kein Wagnis und keine Gefahr, um die Kinder ins Land des Brotes und der Wunderbeere Weintraube zu bringen.
Wir freuen uns besonders, dass auch der Übersetzer des Romans, Helmut Ettinger, zugesagt hat, die Veranstaltung zu moderieren. Das wird ganz sicher wieder ein sehr spannender Abend!
Copyright Foto: George Kardava