„Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. […] Unsere Identität wechselt so häufig, dass keiner herausfinden kann, wer wir eigentlich sind. […] und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.“
1943 veröffentlichte die damals in den USA als sog. „Staatenlose“ lebende Hannah Arendt einen Aufsatz mit dem Titel „Wir Flüchtlinge“. Darin analysiert sie die rechtsfreie Position all Jener, „die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees [angewiesen] waren.“ Als Beispiel nennt sie dafür die Flucht der europäischen Juden vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Dabei spricht sie auch aus eigener Erfahrung. Heute zeigen sich die Ergebnisse ihrer Analyse nahezu schmerzhaft vernachlässigt und dennoch hochaktuell. Ihre Absage an die „absolutistische“ Idee des Nationalstaates sollten die Herren Sloterdijk und Safranski unbedingt nachholen zu lesen. Allen anderen empfehle ich diesen Höhepunkt philosophisch-politischen Denkens auch wegen des bestens informierten und sehr klugen Nachworts des Schweizer Autors Thomas Meyer.
zum Produkt € 7,00*
Es ist schier unglaublich wie der Guggolz-Verlag es schafft, mir mit jedem Programm neue Jubelschreie über seine Bücher zu entlocken.
Eigentlich hatte ich mich in diesem Frühjahr vor allem auf das Erscheinen von Amalie Skram gefreut: Endlich eine AutorIN, dachte ich mir und auch die Thematik um den 450-Seiten-Wälzer "Professor Hieronimus" erschien mir höchst interessant.
(Das ist sie auch, zum Beweis dessen komme ich demnächst an dieser Stelle.)
Wie ist es nun passiert, dass ich doch erstmal so schwärmerisch auf James Leslie Mitchell und seine "Szenen aus Schottland" eingehen muss?
Ich versuche das zu rekonstruieren: Der Verleger Sebastian Guggolz kam im März hier im Laden vorbei und brachte die beiden neuen Titel und die neu gedruckten Gesamtverzeichnisse über die mittlerweile acht Bücher des Verlages.
Während ich mich einfach auf den Titel von Amalie Skram stürzen wollte, blätterten wir gemeinsam durch das andere neue Buch der Frühjahrssaison "Szenen aus Schottland" und je mehr er darüber erzählte, desto mehr war es um mich geschehen.
Guggolz-Werke bestechen alle durch die gleiche aufmerksame, wunderschöne Gestaltung. Darüber habe ich schon mehrfach geschrieben und brühe das jetzt nicht schon wieder auf. Kommt einfach vorbei, nehmt sie in die Hand, streichelt über die achtsam gestalteten Siebdruck-Cover, bewundert die Farbe des Vorsatzpapiers, der Lesebändchen - es ist so leicht ein Buch optisch und haptisch zu etwas Besonderem zu machen. Gestalterisch die richtigen Entscheidungen zu treffen. Zumindest lässt Guggolz es so leicht scheinen. Aber es sind nicht nur die Äußerlichkeiten. Es fängt schon bei der Auswahl der Texte an, den aufwändigen Neuübersetzungen der Bücher, die Guggolz so nicht nur vor dem Vergessen rettet, sondern vielmehr völlig neu mit Leben füllt. Und die Nachworte, die Anmerkungen, es ist alles so passend, so durchdacht.
Die "Szenen aus Schottland" nun also. Den vier Erzählungen und drei Essays sind wunderbar stimmige Illustrationen von Valeria Gordeew vorangestellt. Sebastian Guggolz sprach mit solcher Begeisterung über die grandiose Übersetzungsarbeit von Esther Kinsky, dass ich tatsächlich Lust hatte, wenigstens eine Geschichte aus den "Szenen" zu lesen, bevor ich mich dem "Professor Hieronimus" widmen wollte.
Es war unmöglich. Ich versank so in diesem Buch, in diesen Erählungen, die so rau und existenziell wirkten, wie die beschriebene Landschaft, dass ich es kaum aus der Hand legen konnte. Obwohl es nicht einfach soghaft ist, sondern Aufmerksamkeit einfordert. Weil es eine Sprache benutzt, die selbst beim Lesen umsichtig zu machen scheint. Natürlich hatte Guggolz recht: Die Übersetzungsarbeit ist herausragend.
Das ganze Buch ist eine Wohltat.
zum Produkt € 19,00*
Ein schmales Bändchen, fürwahr.
Trotzdem gehört es für mich zu den vielleicht gewichtigsten Neuerscheinungen in diesem Frühjahr.
Treichel hatte es noch nie nötig zu schwafeln, doch diese Reduziertheit ist ein großer Wurf.
Der Monolog einer Mutter über ihrem gerade verstorbenen (erwachsenen) Sohn ist unsentimental, bewegend - und wunderschön. Und kratzt vielleicht gerade deshalb so wohltuend an den tieferen Schichten der Seele.
zum Produkt € 20,00*
Der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann starb im Jahr 1998. Nun ist bei Suhrkamp ein neues Buch von ihm erschienen. Das könnte eine wahre Entdeckung sein oder die Verwertung von Manuskripten, die besser in der Schublade geblieben wären. Im Falle von „Der neue Chef“ liegt der Schlüssel zum Urteil in der Perspektive. Zwei der drei Texte in diesem schmalen Bändchen sind bereits vor vielen Jahren in Publikationen mit den vielversprechenden Namen „Verwaltungsarchiv“ (1962) oder „Verwaltung. Eine einführende Darstellung“ (1965) veröffentlicht wurden. Der dritte Text mit dem Titel „Unterwachung oder die Kunst, Vorgesetzte zu lenken“ ist ein bisher nicht publiziertes Typoskript aus dem Nachlass Luhmanns, überarbeitet von dem FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube.
Thema aller 3 Texte sind Kommunikationsstrukturen und -strategien unter dem „Gesetz des Wiedersehens“: die tägliche Arbeit in hierarchisch organisierten Institutionen. Angesichts der rasanten Entwicklung von Coaching, Human Resource Management und Führungstheorie in den letzten Jahren scheint Luhmanns Untersuchungsgegenstand etwas antiquiert und für aktuelle Anwendung unzureichend. Aber das muss es auch nicht. „Der neue Chef“ ist kein Lehrbuch. Was Luhmann in diesen drei kurzen Texten meisterhaft zeigt, ist die Fähigkeit durch präzise Beobachtung vom Alltag auf Theorie zu abstrahieren. Seine schon in den 60er Jahren bemerkenswerte Belesenheit, seine Lakonie und seine (für mich bis heute) beispiellose sprachliche Begabung lassen „Der neue Chef“ zu einem kleinen Kunststück des ausformulierten Denkens werden. Um das schätzen zu können, bedarf es auch nicht zwingend die Beherrschung systemtheoretischer Terminologie. Eine kleine, latente Respektlosigkeit gegenüber starren Denkmustern (oder dem eigenen Chef) genügt.
Die beste Stelle:
„Jede Organisation besteht aus Handlungen. Kein Mensch aber kann handeln, ohne selbst dabei zu sein. Er bringt sich selbst, seine Persönlichkeit, mit an die Arbeitsstelle. Die Organisation fordert ihm jedoch nur spezifische Leistungen ab. Seine Gefühle und seine Selbstdarstellungsinteressen werden dabei kaum beansprucht. Sie lungern während der Arbeit funktionslos herum und stiften Schaden, wenn sie nicht unter Kontrolle gehalten werden.“ (S. 43)
zum Produkt € 10,00*
An Carrères neuestem Werk arbeite ich mich noch immer ab. Ich ackere regelrecht. Denn es ist so großartig, wie komplex.
Neben Espedal und Knausgård gehört er für mich zur heiligen Dreifaltigkeit der autobiografischen Schriftsteller und er wird in meinen Augen immer besser, aber auch immer vielschichtiger, immer komplizierter.
"Das Reich Gottes" ist weit mehr, als ein Roman über Glaubens- und Unglaubenskrisen. Carrère schreibt die Anfangsgeschichte des Christentums neu.
Dabei ist er so philosophisch, so politisch, so literarisch, so wahr und so pointiert, dass es unmöglich ist, dieses Buch in das Korsett eines Genres zu pressen.
zum Produkt € 28,00*
Nach New York streifen wir nun also mit Edmund White durch die französische Hauptstadt.
Wir wandeln gemeinsam mit ihm auf den Spuren der ganz Großen, wie Balzac, Baudelaire oder Hemingway, folgen aber auch unbekannten Pfaden und lernen zu staunen und zu genießen.
Sein wacher Blick und sein offener Geist sind mir die liebsten Begleiter auf literarischen Reisen.
zum Produkt € 19,99*
Eine Herzenssache!
Kauft dieses Buch! Lest es Euren Kindern vor.
Lest es in den Kitas und Schulen Eurer Kinder vor.
Verschenkt es an alle Kinder, die Ihr kennt.
Vielleicht auch an die, die Ihr nicht kennt.
Lasst es in den Hausfluren liegen. Tragt es in die Welt!!!
Verzeiht, dass ich so im Imperativ unterwegs bin, aber dieses Buch ist wirklich so unglaublich wichtig, so richtig und so grandios liebevoll und umsichtig gemacht, dass es den Keim des Verständnisses für anderer Menschen Leid und Hoffnung in uns alle legen kann.
Die wahre Flucht-Geschichte einer syrischen Familie, nacherzählt von Kirsten Boie, illustriert von Jan Birck auf Deutsch und Arabisch, erschienen im wunderbaren Klett Kinderbuch Verlag.
Ein Buch, das die Welt besser machen wird!
Danke an Euch, die Ihr es gemacht habt!
Danke an Euch, die Ihr es kauft!
zum Produkt € 9,95*
Die Ausgangssituation: Eine junge Familie, Mutter, Vater und die Zwillingssöhne, Reihenhäuschen alles friedlich. Dann die Katastrophe: Die Mutter stürzt die Treppe hinunter, Hirnblutung, tot. Das ändert ALLES. Das Leben der drei Hinterbliebenen wird zur surrealen Bewährungsprobe, denn unbewusst war es stets die Mutter, die alles zusammenhält, nicht nur im Haushalt, sondern auch im seelischen Gleichgewicht der ganzen Familie.
In dieses emotionale Chaos hinein ertönt plötzlich ein Klingeln an der Tür, aber statt der erwarteten Freunde steht da eine riesige Krähe und verschafft sich Zutritt zum Haus. Sie läuft durch die Räume, verliert hier und da ihre schwarzen Federn („Auf deinem Kopfkissen liegt auch eine Feder.“) und spricht, krächzend zwar, aber verständlich:
„In anderen Versionen bin ich Arzt oder Geist. Ideale Vehikel: Ärzte, Geister und Krähen. Wir können Dinge, die andere Figuren nicht können, etwa Traurigkeit essen, Geheimnisse zuhüllen und dramatisch mit Sprache und Gott ringen. Ich war Freund, Vorwand, Deus ex Machina, Scherz, Symptom, Erfindung, Schrecken, Krücke, Spielzeug, Phantom, Gag, Analytiker, Babysitter.
Ich war schließlich ein zentraler Vogel… bis an die äußersten Grenzen. Ich bin Schablone. Ich weiß es. Ein Mythos, der manipuliert, der manipuliert wird.“
Mit dem Besuch der Krähe öffnet sich ein beeindruckender Kosmos. Die Referenz auf Poes Raben Nevermore ist offensichtlich. Der schwarze Vogel als Allegorie der Trauer, der erst geht, wenn der Schmerz überwunden ist. Der die Trauer frisst. Der Vogel weiß, dass er nur eine Metapher ist, aber das spielt keine Rolle, denn durch die Vogelfiktion wird ein unbegreifliches Gefühl greifbar, gegenständlicher und damit auch irgendwie händelbar. Und darum geht es in diesem Roman: wie gehe ich mit einer Situation um, die vollkommen überfordert, die im Skript meiner Vorstellungskraft bisher nicht vorhanden war, die weit über die Grenzen des Möglichkeitsinns hinausreicht? In dieser taumelnden Entrücktheit treffen sich die Wahrscheinlichkeiten vom Besuch einer sprechenden Krähe und das Sterben einer jungen Frau, Mutter, Geliebten, mit der man noch ein ganzes Leben geplant hatte.
Porters Roman ist nicht lang, aber auf den wenigen Seiten entfaltet er die ganze Kraft der Literatur. Metaphern können uns die Welt nicht nur erklären, sondern manchmal überhaupt erst erträglich machen. Aus diffusen Gefühlen werden so konkrete Bilder zu denen schließlich eine Distanz aufgebaut werden kann.
Sprachlich ist das brilliant umgesetzt, denn Porter (beziehungsweise seine genialen Übersetzer Uda Strätling und Matthias Göritz) beherrscht das lautmalerische Krächzen der Krähe ebenso wie den naiven Blick von sechsjährigen Jungen auf eine viel zu große Welt. Da werden souverän Perspektiven, Register, Zeitebenen gewechselt, um zu einem erstaunlich kohärenten Bild zu gelangen.
Nach der Lektüre bleibe ich zurück, zutiefst erschüttert von der Kraft dieser Prosa.
zum Produkt € 20,00*
Ein Mann nimmt sich vor, ein Klavierstück zu lernen und schreibt darüber ein Buch. Nichts könnte auf den ersten Blick langweiliger sein. Wenn dieser Mann allerdings Chefredakteur des britischen Guardian ist, Träger des alternativen Nobelpreises und einer der einflussreichsten Journalisten der westlichen Hemisphäre, wird es schon spannender. Wenn es sich bei dem Klavierstück auch noch um die Ballade Nr. 1 in g Moll op. 23 von Chopin handelt, eines der schwersten Stücke der Klavierliteratur, ist man geneigt in die ersten Seiten hineinzulesen. Und wenn man dann bemerkt, dass sich dieser Mann sehr elegant, klug und unterhaltsam ausdrücken kann, ist man schließlich drin in einem aus allen Perspektiven außergewöhnlichen (und größenwahnsinnigen?) Projekt. Man wird von Rusbridgers Art über Fingersätze und Tonleitern zu schreiben, ebenso gefesselt wie von seinen beruflichen Aufgaben: Da sind die Veröffentlichungen der Wikileaks-Dokumente, Treffen mit Julian Assange, Geiselnahmeverhandlungen in Lybien, der Umbau von Print auf Digital einer Traditionszeitung, der Abhörskandal von News of the World. Nur wenige Schlaglichter, die doch umso deutlicher die Frage stellen, wie man das alles unter einen Hut bekommen kann. Rusbridger will jeden Tag 20 Minuten üben. Ob er das schafft, will ich nicht verraten. Auch nicht, welche Tipps ihm Condoleezza Rice oder Daniel Barenboim mit auf den Weg geben. Nur soviel darf ich nach der Lektüre, die mich sehr bereichert hat, vorwegnehmen: Es geht in „Play it again“ nicht um ein Kunstwerk, sondern um drei. Da ist sicher diese wunderschöne Klavierballade, die das ganze Spektrum menschlicher Emotionen zu berühren scheint. Da ist aber auch das Kunstwerk, dass es ein Mann von dieser Stellung, in einer Branche, die von Aktualität, Schnelligkeit und unvorhergesehenen Ereignissen lebt, es schafft, kontinuierlich Zeit für die Muse aufzubringen. Und dann schließlich das Kunstwerk, über all das in einer Art und Weise schreiben zu können, die auch musikalische Laien völlig in den Bann zieht. „Play it again“ ist eine lesenswerte Aufforderung Kunst in den Alltag zu integrieren. Die Lektüre dieses Buches wäre dafür der erste Schritt.
zum Produkt € 25,00*
Ich habe neulich ein Wochenende in der
"Großwäscherei" von Andor Endre Gelléri verbracht.
Donnerlittchen, und jetzt stehe ich vor dem Problem, dass ich kaum über das Buch sprechen kann, ohne wie ein verknallter Teenager zu klingen. Also seht mir die Schwärmerei mal kurz nach, es geht wirklich nicht anders.
Wie bei allen Büchern aus dem Guggolz Verlag fängt es schon mit Optik und Haptik an: Handschmeichler ist ein schrecklich abgedroschenes Wort, aber irgendwie liegen alle Bücher aus diesem Haus nahezu unverschämt angenehm in den Händen. Fast seidig und weich, dabei ohne künstlichen Schnickschnack, mit bestechend schlichter Gestaltung, feiner Typografie, gutem Papier, Fadenheftung, in der perfekten Größe ...
Man merkt diesen Büchern vom Coverdesign bis zum Text auf dem Rücken einfach an, dass sie rundum klug und liebevoll gedacht und gemacht sind.
Nun zu Gelléri, dieser ungarischen Wiederentdeckung:
Der Autor starb 1945 mit nur 39 Jahren an einer Typhusinfektion im damals gerade befreiten KZ Mauthausen.
"Die Großwäscherei" ist sein einziger Roman und erschien erstmals 1931. Gelléri hat bereits als junger Erwachsener eine beachtliche Anzahl Erzählungen und Novellen geschrieben, stets in dem Gefühl, das abbilden zu müssen, was er gerade vor Augen hatte. Und da er immer auch Brotberufen nachgehen musste, strotzen sie vom prallen Leben der arbeitenden Schicht.
So auch das gerade erschienene Buch "Die Großwäscherei", das bunt schillernd, eine Budapester Arbeiterszene in ihrem eigenen, kleinen Kosmos vor unseren Augen heraufbeschwört. Und vielleicht liegt es daran, dass Gelléri tatsächlich mal in einem solchen Betrieb hat schuften müssen, dass die Gerüche, die Geräusche, der Gestank, der Dampf, die beißenden Laugen, die Hoffnungen und Leiden der Kragenwäscher-Mädchen, der Färber und Waschjungen, der Bügelfrauen und Vorarbeiter tatsächlich vom ersten Satz an so mitreißend beschrieben sind.
Vielleicht liegt es aber auch schlicht und ergreifend an Gelléris erzählerischem Talent.
Und spätestens wenn man das Nachwort der Übersetzerin Timea Tankó liest, wird klar, wie viel kluge Überlegung und übersetzerisches Geschick auch hierbei am Werk waren.
zum Produkt € 22,00*